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Inklusion

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24. November 2011 22:24 # 1
Mschiew.
Mschiew.
Ehemaliges Mitglied
Beiträge: 935

Geändert am 25.11.2011 17:59:00
Inklusion als Chance für die Ergotherapie

Seit 2009 hat Deutschland die UN Behindertenkonvention ratifiziert, die 2007 schon unterschrieben wurde. Derzeit wird die „inklusive Bildung“ besprochen, kritisiert und vor allem über alle Maßen thematisiert. Leider ist auch festzustellen, dass über den Begriff „inklusive Bildung“ hinaus wenig bekannt ist. Es gibt in dieser UN Charta 50 Artikel. Lediglich einer beschäftigt sich mit inklusiver Bildung (Artikel 24). Davor gibt es also ein paar und danach auch noch. Um es sehr einfach auszudrücken, beschäftigt sich die Inklusion mit der Gleichstellung aller Menschen ob mit oder ohne Behinderung in allen nur erdenklichen Bereichen des täglichen Lebens.

Beispiele für diese Artikel sind: Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung (Artikel 5) Umfassende Barrierefreiheit (Artikel 9) Unabhängige Lebensführung (Artikel 19) Inklusive Bildung (Artikel 24) Arbeit und Beschäftigung (Artikel 27) Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben (Artikel 29)

Diese Charta hat einen sehr hohen Aufforderungscharakter an die gesamte Gesellschaft in allen Bereichen.

Im derzeitigen öffentlichen Fokus spielt aber lediglich die „inklusive Bildung“ eine große Rolle. Vorschnell wird mit Ängsten von allen Menschen gespielt, Beschlüsse gefasst und Schul-Projekte auf die Beine gestellt. Da der Bildungssektor den jeweiligen Landesregierungen untersteht, werden sich ebenso mannigfaltige Lösungsansätze herausbilden. Wir in Sachsen haben momentan den Luxus, eine besonnen Parteienlandschaft zu besitzen, die dieses Thema mit der nötigen Sensibilität behandelt.

Die Frage der Kritik an diese gesellschaftliche Aufgabe stellt sich nicht, da geltendes Recht. Vielmehr sind konstruktive Ideen gefragt.

Neben der Bildung wird es eine große bedeutende Aufgabe sein, das Gesundheitssystem dahingehend zu reformieren, dass dieses selbst der Inklusion gerecht werden kann. Hier stellt sich schon die erste Schwierigkeit dar. Wie kommt ein Gremium, welches auf Bundesebene agiert, mit den verschiedenen Bildungsstrategien der verschiedenen Bundesländer zusammen?
Aber zunächst sollten auch die Ergotherapeuten sich dazu öffentlich eindeutig positionieren. Das beginnt schon mit der Informationssammlung über Inklusion als solche.

Die Grundsätze von Inklusion beispielhaft im Artikel 3c („die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft“ ) beschrieben, lassen sich mit den allgemeinen Zielen der Ergotherapie mehr als nur verbinden. Sie unterstreicht sogar die Bedeutung unseres Berufsbildes im Prozess zur „vollendeten“ Inklusion. Diese Chance müssen wir erkennen und somit noch deutlicher unser Stärken im Bereich der handlungsorientierten Therapie zum Widererlangen an die Teilhabe unterstreichen.

Die beruflichen Möglichkeiten haben wir. Doch nutzen müssen wir sie, so dass gesundheitspolitisch nicht anderes übrig bleibt, als unseren Beruf zu stärken und uns nicht durch undurchsichtige HMR zu beschneiden.

Ob Inklusion erfolgreich wird? Ich hoffe es. Wann sie tatsächlich „vollendet“ umgesetzt wird? Sicherlich bedarf es mehr als 50 Jahre. Ob sie jeder mitmacht oder sich inkludieren möchte? Das ist für den Moment ungewiss.

Doch beginnen müssen wir jetzt!

Michael Schiewack michael@schiewack.de www.schiewack.de


Ich trage die volle Verantwortung, für das was ich schreibe!

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25. November 2011 17:28 # 2
Mschiew.
Mschiew.
Ehemaliges Mitglied
Beiträge: 935

Geändert am 26.11.2011 08:14:00
Vielleicht eine Frage als Diskussionseinstieg:

Seht ihr diesen gesellschaftlichen Wandel als realistisch umsetzbar?

Ich trage die volle Verantwortung, für das was ich schreibe!

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26. November 2011 18:26 # 3
E.Fuß
E.Fuß
Ehemaliges Mitglied
Beiträge: 86

Hi Mschiew,

ich selbst arbeite mit der Inklusion noch gar nicht.
Aber ich weiß, dass diese Art von Arbeit in Zukunft vermehrt auch auf Ergotherapeuten zukommen wird. Allein von den WfbM´s wird diese Arbeit - so denke ich - stark angenommen und umgesetzt werden (müssen).
Ich finde diese Idee dahinter gut, fände es auch gut, wenn dies wirklich umgesetzt wird/werden kann. Allerdings frage ich mich, ob es auch wirklich von Betrieben usw. angenommen und umgesetzt wird - auch wenn es Vorschrift ist.

Ich sehe hier nunmal den Vorteil, dass die Klienten noch mehr in die Therapie und ihre Zielsetzungen mit eingebunden werden können und sogar müssen. Der klientenzentrierte Ansatz greift hier sehr gut. Zumindestens besser als bei meiner jetztigen Tätigkeit - gleich null.

LG E.Fuß

26. November 2011 21:19 # 4
Registriert seit: 02.06.2005
Beiträge: 3215

Geändert am 26.11.2011 22:59:00
Hallo Michael, Hallo KollegInnen,

ein sehr interessantes Thema.

Ich stelle mir die Frage, warum wir Inklusion überhaupt brauchen.

Angesichts der Tatsache, dass 2009 7,1 Millionen Menschen in Deutschland den Status "schwerbehindert" hatten und sicherlich nicht alle potentiell Schwerbehinderten erfaßt sind, die tatsächliche Zahl also noch höher liegen dürfte, können wir davon ausgehen, dass also bereits über 8 Prozent der etwas mehr als 80 000 000 Millionen Einwohner in unserem Land schwer behindert sind bzw. schwer behindert werden.

Es läuft ja gerade eine originelle Plakataktion dazu .

Menschen mit Handicap als Randgruppe zu betrachten ist also nicht angebracht.

Fragwürdig ist zudem die sehr defizitäre Sicht auf das Thema "Behinderung".

Das führe ich auf die starken Nachwirkungen zurück, die das Menschenbild des Nationalsozialismus bis heute hat. Die Bürger in Deutschland, die heute den altersmäßig größten Anteil ausmachen, nämlich alle über 50 sind noch durch nationalsozialistisch eingefärbte Erziehungs- und Unterrichtsinhalte geprägt. Das hat sich im Osten wie im Westen bis Anfang der 90er Jahre gehalten. So lange waren nämlich Exnazis, Sympathisanten und Mitläufer an den Hebeln der Macht und in der jeweiligen Gesellschaft aktiv tätig. Erst jetzt sterben sie langsam aus, die "Behinderte vergasen"-Schreier und diejenigen, die angesichts eines behinderten Kindes in der Öffentlichkeit sagen "das muß doch nicht sein, bei Adolf hätte es das nicht gegeben".

Ich selbst (Jahrgang 1964) habe das noch alles erlebt. Die menschenverachtende faschistische Glaubenshaltung war allgegenwärtig. Viele Menschen waren hinter ihrer korrekten Fassade verroht, brutal und stolz auf ihre Dummheit und mangelhafte Toleranz.

Die Tatsache, dass der bundesdeutsche Geheimdienst lange nach Kriegsende noch Exnazis beschäftigt hat und offenbar immer noch faschistisch unterwandert ist (siehe den Fall der Mörderbande aus Erfurt, bei denen der BND offensichtlich mehr als geschlampt hat) zeigt, dass wir das Problem längst noch nicht überwunden haben.

Ein Fall "Sarrazin" kann sich ganz schnell auch auf behinderte oder gebrechliche Menschen ausweiten.

Dahinter stecken meiner Einschätzung nach psychosoziale und charakterliche Defizite. Damit kenne ich mich als Ergotherapeutin bestens aus - auch wenn meine therapeutische Haltung grundsätzlich ressourcenorientiert ist.

Ein Beispiel dazu aus meiner eigenen Lebensgeschichte: ich bin seit über 40 Jahren Diabetikerin. Anfang der 70er bekam meine Mutter eine Buchempfehlung: "Lebenstüchtig trotz Diabetes" hieß das Buch. Es waren viele gut gemeinte und ermutigende Ratschläge darin, aber ich bin mir bis heute nicht sicher, ob das "Lebenstüchtig" deshalb gewählt wurde, weil 25 Jahre nach Kriegsende das Unwort "Lebensuntüchtig" noch so geläufig war.

Als ich anfing zu begreifen, was die Andeutungen bzw. die Gespräche zwischen den Erwachsenen, die ich heimlich belauscht habe bedeuten (was mir nur durch eine Informationen aus der Schule, dem Fernsehen und der Zeitung gelang, denn innerhalb des Milieus, in dem ich aufwuchs, wurde der Faschismus unkritisch-positv dargestellt) habe ich mir Gedanken gemacht, ob ich wohl auch getötet worden wäre, wenn ich nicht 1970 sondern schon 1940 gelebt und an Diabetes erkrankt wäre. Abgesehen davon, dass damals Insulin eine Mangelware war.

Das hat mich damals sehr beschäftigt und dazu beigetragen, dass die nationalsozialistische Gesinnung meiner Umgebung bei mir nicht hängen blieb.

Aber ich bin durch diese Prägung sehr skeptisch und wachsam, was verdeckt aktives Nazigedankengut innerhalb unserer Bevölkerung angeht.

Und insofern nicht so optimistisch, dass der Kern von Inklusion, nämlich die Erkenntnis, dass behinderte bzw. kranke Menschen eine Bereicherung für unsere Gesellschaft sind, sich langfristig durchsetzt. Dummheit und Neid sind weit verbreitet bei uns.


"Aktion Mensch" hat zwar schon viel bewirkt, was den Transport einer veränderten Sichtweise angeht.

Und ich finde deren Ansatz, jedem eine Chance zu geben, aber auch jeden Menschen herauszufordern, sehr menschenfreundlich und nachhaltig.

Behinderte Menschen brauchen weder mehr "Fürsorge" noch mehr "Mitleid" oder "Unterstützung". Es hilft ihnen am meisten, wenn man sie da herausfordert und wertschätzt, wo sie Begabungen und Interessen haben und weniger auf ihre "Defizite" und deren "Verbesserung" abzielt.

Sie sind so wie sie sind und wenn wir sie nicht aktiv und vorsätzlich ausgrenzen würden, dann könnten wir sie überall in unserer Gesellschaft antreffen.

In diesem Sinne können wir als ErgotherapeutInnen sehr viel für den Erfolg von "Inklusion" beitragen.

Einen schönen ersten Advent wünscht



Oetken1
27. November 2011 11:59 # 5
Registriert seit: 30.07.2001
Beiträge: 58

Hallo zusammen,

Erst einmal danke dafür, dass auch dieses wichtige Thema seinen Platz hier im Forum gefunden hat und an Oetken1 für den super formulierten Beitrag, dem ich mich nur anschließen kann!

Ich arbeite in einer WfbM und hier wird das Thema Inklusion immer mehr in den Mittelpunkt gestellt.
So ist die Vermittlung unserer Mitarbeiter auf den freien Abeitsmarkt inzwischen viel deutlicher zu unserem Auftrag geworden, als das noch vor ein paar Jahren der Fall war.

Mit Hilfe von den neu geschaffenen Stellen der "Jobcoachs" ist dies nun in einigen Fällen auch schon geglückt.
Manche Arbeitsplätze werden allerdings immer noch als "Pseudo-Stellen" angesehen, z.B. eine Aussage zu einer Stelle beim Landratsamt: "Der räumt da halt Akten von rechts nach links".
Der Eindruck, dass einige Arbeitgeber sich einen "Alibi-Behinderten" einstellen um einen positiven Eindruck zu machen kann da leicht entstehen und sicher profitieren diese Unternehmen auch davon, sei es steuerrechtlich oder eben durch das "gute Werk" und die damit verbundene Reklame.

Aber das ist doch völlig egal!!!
Dieser Mensch hat einen Schritt in die Normalität gemacht und wird nun gesellschaftlich viel deutlicher wahrgenommen.
Durch solche kleinen Schritte wird "Behinderung" immer "normaler", die Hemmschwelle von den sogenannten "Gesunden" nimmt ab und alle können voneinander lernen.
Wenn ich fremden Leuten erzähle was ich beruflich mache, höre ich fast immer "oh je, das könnte ich nicht!" oder "Das ist bestimmt schwer mit DEN Behinderten", dabei haben sie selbst noch gar keine persönlichen Erfahrungen mit Menschen mit Handicap gemacht.

Durch Inklusion wird genau diese Barriere abgebaut, ob durch integrative Kindergärten, Schulkooperationen, Wohnprojekte im normalen Wohngebiet oder Stellen auf dem freien Arbeitsmarkt.
Der Effekt ist derselbe: Weg von der Zentralisierung und hin zum normalen Miteinander.

Ich war dieses Jahr mit meiner Gruppe auf Freizeit und da sind wir natürlich bei unseren Ausflügen auch öfters aufgefallen, zum Glück meistens positiv
Wir sind von so vielen Menschen auf unsere Arbeit angesprochen worden und haben ganz oft gehört, wie großartig sie es finden, dass wir auch hier sind.
Es ist natürlich wirklich schön, so viel Lob zu bekommen, aber ich denke dies nicht mehr notwendig ist, sondern das Zusammenleben von Menschen mit den unterschiedlichsten Fähigkeiten ganz normal ist, dann haben wir es wirklich geschafft.

Bis dahin denke ich, dass wir auf einem guten Weg sind!

Euch allen eine schöne Adventszeit und viele Grüße
Renate

27. November 2011 14:18 # 6
chipchap
chipchap
Ehemaliges Mitglied
Beiträge: 1334

Geändert am 27.11.2011 14:20:00
Für mich bedeutet Inklusion, daß in der Zukunft Behinderte und Nichtbehinderte
(egal ob körperlich, geistig, psychisch) wirklich eine GEMEINSAME Lebenswelt
haben. Denn das ist eben jetzt nicht der Fall.
Überall wurde bisher getrennt!! Behinderte bekamen Unterstützung, Förderung, Pflege etc,
aber sie waren nicht IN der Gesellschaft !!

Ein Beispiel aus meiner Nachbarschaft:
Der Sohn einer Nachbarfamilie, Downsyndrom, leichte geistige Behinderung
wird täglich in aller Herrgottsfrühe mit dem Kleinbus zur Förderschule ca. 15 km
entfernten größeren Stadt gebracht. Und ungefähr 16/17 Uhr wieder zurück.
Der Junge hat hier in direkter Nachbarschaft KEINEN Freund, er wird von anderen
Kindern schräg angesehen, manchmal auch ausgelacht.
Die Freunde, die er vielleicht in der Schule hat, leben alle viel zu weit weg
für normale Nachmittagsbesuche..
Ist das nicht grausam ??? Regelrecht zur Einsamkeit verdammt.
Warum konnte er nicht hier eine Regelschule in der Nachbarschaft
besuchen ? Warum hinkt Deutschland im internationalen Vergleich
was Bildungs(chancen)gleichheit angeht, so dermaßen hinterher ??
1. Es kostet Geld (barrierefreie KiGas und Schulen, mehr Fachkräfte einstellen)
2. Die Eltern der "gesunden" Kinder würden dagegen Sturm laufen. Denn die Wenigsten
können sich vorstellen, daß integrative (in Zukunft inklusive) KiGagruppen und
Schulklassen funktionieren. Sie würden annehmen, daß die Behinderten das
Klassenlevel senken, und ihre eig. gesunden Kinder dadurch zu wenig lernen...
Die Erfahrungen im Ausland sprechen da eine andere Sprache.
Zunächst müssen also die Vorurteile der Erwachsenen abgebaut werden.
Unsere Kinder würden sowieso von selbst in die neue "gemeinsame Lebenswelt"
hineinwachsen.

Ich habe mich selbst immer bemüht meinem eigenen Kind vorzuleben, daß
"Andersartigkeit" nicht zum Grund genommen werden darf, jemanden
auszugrenzen oder auszulachen. Bzw. dies als Anlass zu nehmen, sich
selbst als etwas Besseres zu fühlen.
Ich bin froh darüber, daß mein Kind bisher Regelschulen in unserer Kleinstadt
besucht hat, die einen recht bunten Migrationsanteil haben. Es ist normal neben
Paul oder Lukas auch einen Ibrahim oder Yong als Freund zu haben..
Ich bin froh darüber, daß ich (zufällig) Homosexuelle im engen Bekanntenkreis
habe, so daß mein Kind sie immer schon als "Menschen wie du und ich"
wahrnehmen konnte. Was das betrifft ist leider die Vorurteilssuppe noch riesig,
wie mein Kind mir immer wieder aus der Schule berichtet !! Dort ist das Wort
"schwul" (neben dem Wort "behindert" ) immer noch eine verletzende Beleidigung,
die gern im Streit eingesetzt wird..

Die Inklusion hat nur dann eine Chance, wenn wir sie alle im Alltag leben, als
Privatpersonen und als Fachkräfte im Gesundheitswesen.
Und als Wähler.. denn die Politik muß die finanziellen Voraussetzungen schaffen !


28. November 2011 13:14 # 7
Mschiew.
Mschiew.
Ehemaliges Mitglied
Beiträge: 935

Geändert am 28.11.2011 18:36:00
Zunächst dank ich euch, dass ihr euch zu diesem "zukunftsweisenden" Thema geäußert habt. Natürlich sind alle Meinungen dazu willkommen.

Denkt ihr, die Ergotherapie als Berufsbild könnte von diesem "politischen Bestreben" profitieren. Oder was sollten die deutschen Ergotherapeuten tun?
30. November 2011 12:27 # 8
Mschiew.
Mschiew.
Ehemaliges Mitglied
Beiträge: 935

Ich wills nochmal nach oben holen. Finde, dass das Thema zu wichtig ist.

Ich trage die volle Verantwortung, für das was ich schreibe!

www.schiewack.de
30. November 2011 12:51 # 9
Registriert seit: 02.06.2005
Beiträge: 3215

Zitat:

Zunächst dank ich euch, dass ihr euch zu diesem "zukunftsweisenden" Thema geäußert habt. Natürlich sind alle Meinungen dazu willkommen.

Denkt ihr, die Ergotherapie als Berufsbild könnte von diesem "politischen Bestreben" profitieren. Oder was sollten die deutschen Ergotherapeuten tun?


Hallo Michael,

bin der Meinung, dass das Nutzen von konzeptionellen Modellen von ganz allein zu einem "inklusiven" Therapieansatz führt. Schon allein dadurch, dass die Teilhabe von vorneherein dort das oberste Gebot und höchste Ziel ist.

Dass die Behandlung an sich, dann ganz schön aufwändig werden kann, da es so viele Klippen hin zur Inklusion zu überwinden gibt, steht auf einem anderen Blatt.

Andrea Espei hat dazu mal einen schönen Artikel verfaßt, ging um Kinder und Angehörige in der neurologischen Reha. Finde den nur gerade nicht.

Antworte heute abend ausführlicher und stelle ein Fallbeispiel vor, in der Hoffnung, dass ihr mir ein paar neue Impulse gebt

Viele Grüße von

Oetken1
30. November 2011 21:47 # 10
Registriert seit: 26.06.2005
Beiträge: 520

Hallo Micha und alle anderen,

erstmal ganz vielen Dank für die den Beitrag!
Ich habe nicht soviel Hintergrundwissen und findes es bereichernd durch euch mehr zun erfahren.
In meiner täglichen Arbeit spielt Inklusion sicher eine wichtige Rolle. Größtmögliche Teilhabe für den Patienten zu erreichen /ermöglichen ist immer das Ziel, dass oben drüber steht. Ich habe schon den Eindruck, dass ich in meinem Rahmen (in der Therapiezeit und auch darüber hinaus im Sinne der Nachhaltigkeit) mit dem Patienten Teilhabe erreichen kann.

ABER: Die Teilhabe bzw. Inklusion scheitert oft so an der Umwelt!
Mein persönliches Beispiel von heute:
Im Rahmen des Projekttags waren wir mit Patienten (alle mit größeren Moblitätseinschränkungen) per öffentlichen Verkehrsmitteln Richtung Weihnachtsmarkt unterwegs. Das Problem war nur, dass der Aufzug aus der U-Bahn nicht funktionierte. Wie bekommt man Patienten mit Rollstuhl die Rolltreppen hoch? Gar nicht! Und die Treppen (aus der U-Bahn in einer Großstadt) kaum möglich und anschließend haben alle keine Lust mehr auf Weihnachtsmarkt!

Ich gebe zu, ich bin heute sowas von genervt, weil ich denke, dass wir Ergos Teilhabe und Inklusion doch eignetlich drauf haben: Aber die Gesellschaft, die Menschen mit Einschränkungen immer noch am liebsten wegschleißen würde ist ein echtes Problem.
Ich bin soviel mit Patienten unterwegs und begegne oft Ablehnung! Da ist der U-Bahn Fahrer, der uns an der Tür zubrüllt "machts zua" noch das Wenigste.
Wir alle dürfen nicht vergessen, dass wir in unseren Therapieräumen immer ganz leicht von Inklusion reden können, die Wirklichkeit sieht anders aus
Ich hoffe mein Beitrag passt trotzdem zum Thema
- ich bin euch jedenfalls dankbar, dass ich mir etwas Luft machen konnte!

LG
Christina



1. Dezember 2011 21:15 # 11
Mschiew.
Mschiew.
Ehemaliges Mitglied
Beiträge: 935

Geändert am 01.12.2011 21:16:00
Hallo Christina, natürlich passt deine Meinung zu diesem Thema. Spiegelt die doch die Realität wieder, die uns täglich umgibt.
Wenn wir von der Umwelt sprechen, die eben ein hinderlicher oder förderlicher Faktor sein kann bezieht die UN.Charta ganz klar eine Position dazu. Zum einen geht es um die persönliche Mobilität:

Artikel 20
Persönliche Mobilität
Die Vertragsstaaten treffen wirksame
Maßnahmen, um für Menschen mit Behinderungen
persönliche Mobilität mit größtmöglicher Unabhängigkeit sicherzustellen,
indem sie unter anderem
a) die persönliche Mobilität von Menschen
mit Behinderungen in der Art und
Weise und zum Zeitpunkt ihrer Wahl
und zu erschwinglichen Kosten erleichtern;
b) den Zugang von Menschen mit Behinderungen
zu hochwertigen Mobilitätshilfen,
Geräten, unterstützenden
Technologien und menschlicher und
tierischer Hilfe sowie Mittelspersonen
erleichtern, auch durch deren Bereitstellung
zu erschwinglichen Kosten;
c) Menschen mit Behinderungen und
Fachkräften, die mit Menschen mit Behinderungen
arbeiten, Schulungen in
Mobilitätsfertigkeiten anbieten;
d) Hersteller von Mobilitätshilfen, Geräten
und unterstützenden Technologien ermutigen,
alle Aspekte der Mobilität für
Menschen mit Behinderungen zu berücksichtigen

Was heißt das: Deutschland muss sicherstellen, dass alle Menschen geeignete Hilfsmittel zur Verfügung haben, die ihnen einen Mobilität (und zwar wie im Artikel selbst beschrieben) gewährleistet. Heißt eigentlich haben unsere Patienten ein „verbrieftes“ Recht ihre angemessenen Rollstühle zu bekommen, die sie brauchen und nicht irgendwelche, die gerade im Lager zur Verfügung stehen. Dieses Recht wäre auf die in Deutschland ratifizierte Charta erfolgreich einklagbar.

Aber auch die Zugänglichkeit zu den Gebäuden selbst muss Gewährleistet sein.

Zugänglichkeit
(1) Um Menschen mit Behinderungen
eine unabhängige Lebensführung und die
volle Teilhabe in allen Lebensbereichen zu
ermöglichen, treffen die Vertragsstaaten
geeignete Maßnahmen mit dem Ziel, für
Menschen mit Behinderungen den gleichberechtigten
Zugang zur physischen Umwelt,
zu Transportmitteln, Information und
Kommunikation, einschließlich Informations-
und Kommunikationstechnologien
und -systemen, sowie zu anderen Einrichtungen
und Diensten, die der Öffentlichkeit
in städtischen und ländlichen Gebieten
offenstehen oder für sie bereitgestellt werden,
zu gewährleisten. Diese Maßnahmen,
welche die Feststellung und Beseitigung
von Zugangshindernissen und -barrieren
einschließen, gelten unter anderem für
a) Gebäude, Straßen, Transportmittel sowie
andere Einrichtungen in Gebäuden
und im Freien, einschließlich Schulen,
Wohnhäusern, medizinischer Einrichtungen
und Arbeitsstätten;
b) Informations-, Kommunikations- und
andere Dienste, einschließlich elektronischer
Dienste und Notdienste.
(2) Die Vertragsstaaten treffen außerdem
geeignete Maßnahmen,
a) um Mindeststandards und Leitlinien für
die Zugänglichkeit von Einrichtungen
und Diensten, die der Öffentlichkeit
offenstehen oder für sie bereitgestellt
werden, auszuarbeiten und zu erlassen
und ihre Anwendung zu überwachen;
b) um sicherzustellen, dass private
Rechtsträger, die Einrichtungen und
Dienste, die der Öffentlichkeit offenstehen
oder für sie bereitgestellt werden,
anbieten, alle Aspekte der Zugänglichkeit
für Menschen mit Behinderungen
berücksichtigen; c) um betroffenen Kreisen Schulungen zu
Fragen der Zugänglichkeit für Menschen
mit Behinderungen anzubieten;….

Aber ich sehe es wie ihr. Zunächst muss sich etwas in den Köpfen ändern. Ich persönlich finde es gut, dass „Politische Gremien“, hier einen Denkanstoß geben, mit dem konkreten Auftrag an die Vertragsstaaten, dort etwas konkret zu tun. Dass dieser Prozess sehr langsam vorrangehen wird, weil wir Menschen „umdenken“ müssen ist mit klar.
Deshlb denke ich, dass Artikel 8 der Charta, der erste sein muss, der umgesetzt werden sollte.

Artikel 8
Bewusstseinsbildung
(1) Die Vertragsstaaten verpflichten sich,
sofortige, wirksame und geeignete Maßnahmen
zu ergreifen, um
a) in der gesamten Gesellschaft, einschließlich
auf der Ebene der Familien,
das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen
zu schärfen und die Achtung
ihrer Rechte und ihrer Würde zu
fördern;
b) Klischees, Vorurteile und schädliche
Praktiken gegenüber Menschen mit
Behinderungen, einschließlich aufgrund
des Geschlechts oder des Alters, in
allen Lebensbereichen zu bekämpfen;
c) das Bewusstsein für die Fähigkeiten
und den Beitrag von Menschen mit
Behinderungen zu fördern.
(2) Zu den diesbezüglichen Maßnahmen
gehören
a) die Einleitung und dauerhafte Durchführung
wirksamer Kampagnen zur
Bewusstseinsbildung in der Öffentlichkeit
mit dem Ziel,
i) die Aufgeschlossenheit gegenüber
den Rechten von Menschen mit
Behinderungen zu erhöhen, ii) eine positive Wahrnehmung von
Menschen mit Behinderungen und
ein größeres gesellschaftliches Bewusstsein
ihnen gegenüber zu fördern,
iii) die Anerkennung der Fertigkeiten,
Verdienste und Fähigkeiten von
Menschen mit Behinderungen und
ihres Beitrags zur Arbeitswelt und
zum Arbeitsmarkt zu fördern;
b) die Förderung einer respektvollen Einstellung
gegenüber den Rechten von
Menschen mit Behinderungen auf allen
Ebenen des Bildungssystems, auch bei
allen Kindern von früher Kindheit an;
c) die Aufforderung an alle Medienorgane,
Menschen mit Behinderungen in einer
dem Zweck dieses Übereinkommens
entsprechenden Weise darzustellen;
d) die Förderung von Schulungsprogrammen
zur Schärfung des Bewusstseins
für Menschen mit Behhinderungen und
für deren Rechte.


Ich hoffe ich hab euch jetzt nicht "erschlagen"

Ich trage die volle Verantwortung, für das was ich schreibe!

www.schiewack.de
2. Dezember 2011 19:59 # 12
Registriert seit: 26.06.2005
Beiträge: 520

Hallo Micha,

WOW! Danke für die vielen Zeilen. Ich habe sie schon mal durchgelesen, werde das aber sicher noch ein paarmal machen, denn da ist echt viel drin!
Das hört sich gut an und ich denke auch, dass es sicher ein Anfang ist, dass es die Charta gibt und unsere Gesellschaft da eigentlich vor einer großen Aufgabe steht.
Heute Abend habe ich keine Kopf mehr (ist schleißlich Freitag) aber ich werde noch was dazu schreiben, schon allein um das Thema Inklusion hier im Forum öffentlich zu halten!!!

LG
Christina

P.S.: Aus deiner Antwort entnehme ich, dass du mir die falsche Anrede von neulich nicht mehr übel nimmst?!


2. Dezember 2011 21:34 # 13
Registriert seit: 03.07.2007
Beiträge: 490

Hallo,

Ich finde auch, dass wir unbedingt dieses Thema weiter diskutiereten sollten. Danke Micha für deinen langen Beitrag.

Wurde von Christina's Beitrag an eine Situation erinnert wo wir auch zum Cafetrinken in die Stadt wollten mit der U-Bahn... und weil die Abstände von der Tür zum Bahnsteig so groß waren und wir zu zweit anpacken mussten... wäre eine geistig und physisch stark behinderte Person fast in der U-Bahn alleine weitergefahren....ooops....mit dem Auto hatten wir jedoch das Problem, dass die Parkplätze zu klein waren und wir z.T. auf Bushaltestellen ausweichen mussten... was auch nicht ideal war.

Was wir tun können? Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht wenn ich sehe, dass Unternehmen sich anstrengen behinderten gerechte Angebote anzubieten diese dafür zu loben und ihnen Feedback zu geben. Einige waren davon sehr gerührt. Ein Hallenbadmitarbeiter z.B. meinte, dass ich die erste Person gewesen wäre den behinderten gerechten Umbau des Hallenbads & das Training der Mitarbeiter zu bemerken und zu loben. Denke das ist wirklich ein kleiner Aufwand in meinem Alltag, aber vielleicht sehr wirksam wenn vermehrt Mitarbeiter des Gesundheitswesens positive Veränderungen öffentlicht loben

ein schönes Wochenende wünscht Ceilidh


3. Dezember 2011 12:15 # 14
Mschiew.
Mschiew.
Ehemaliges Mitglied
Beiträge: 935

Geändert am 03.12.2011 12:59:00
Zitat:


P.S.: Aus deiner Antwort entnehme ich, dass du mir die falsche Anrede von neulich nicht mehr übel nimmst?!




Nein, habe ich sowie so nicht. Nur an dem Tag gab es gerade einen Artikel zum Thema Inklusion in der Tageszeitung. Der Artikel war grauenhaft, falsch dargestellt und völlig inkompetent. Dazu wurde ich falsch bzw. nachlässig zitiert und ich habe auch noch einen neuen Vornamen bekommen. Du siehst....
Aber keine Panik...ich hatte keine schlaflosen Nächte deswegen.

Ich trage die volle Verantwortung, für das was ich schreibe!

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4. April 2012 07:47 # 15
saloia
saloia
Ehemaliges Mitglied
Beiträge: 3624

ich häng das hier mal an, weils m.e. zum thema gehört.

ein anderer bereich, in dem inklusion gefordert wird und dringend nötig ist, ist die psychiatrie..

hier der link zu einer debatte über "wie wollen wir zusammen leben" in bezug auf psychisch kranke menschen:
Link



gruß - saloia
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>>Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute; seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben. << (g.b.shaw)



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