Geändert am 09.03.2015 06:44:00
Hallo Maora,
das klingt doch schon mal gut, sieht aus, als würdet ihr langsam zueinander finden
Die mögliche Depression würde ich nach wie vor im Hinterkopf behalten, möglicherweise ist eine Behandlung angezeigt (nicht von dir, sondern von Medizinern und Psychotherapeuten). Einfach mal weiter beobachten.
Was die Behandlung der Hemianopsie angeht, werden hier wesentlich kompetentere Therapeuten zugegen sein als ich, mein Arbeitsfeld ist ein ganz anderes. Sicher äußert sich noch jemand Erfahrenes dazu. Die Behandlungsplanung an sich klingt mir persönlich jedoch etwas zu sehr nach "ein bisschen hiervon...und dann ein bisschen davon... ein bisschen dieses und jenes wäre auch noch ganz schön...". Ich kann aus deinen Schilderungen nicht herauslesen,
wobei genau der Patient Schwierigkeiten hat, welche teilhaberelevanten Einschränkungen bestehen. Es ist noch sehr schwammig und kaum greifbar. Kochen hattest du erwähnt und das Umstoßen des Messbechers. Okay, das ist doch schon mal eine konkrete Tätigkeit.
Aber was ist mit seinem Beruf und den anderen erwähnten Einschränkungen? Du schreibst, er fühle sich seinem Beruf "nicht gewachsen". Aber was bedeutet das? Was genau muss er in seinem Beruf tun? Was genau kann er noch sicher ausführen, was nicht? In welchen Punkten bzw. in Bezug auf welche Aufgaben hat er Zweifel?
Dasselbe in Bezug auf die Konzentration: Woran merkt der Patient, dass seine "Konzentration stark abgebaut" hat? Woran macht er das fest? Was ist anders im Vergleich zu früher? Woran genau merkt er das? Und woran würde er merken, dass seine Konzentration sich verbessert hat?
"Konzentration" ist ein theoretisches Konstrukt, deshalb ist es schwierig (und nicht unbedingt sinnvoll) damit zu arbeiten, wenn man den Begriff nicht für bzw. mit jedem Patienten genau definiert. "Die Konzentration" gibt es nicht. Viele Patienten berichten von mangelnder Konzentration, aber wie äußert sich diese im konkreten Fall? Bei der Beantwortung dieser Frage wird es erst interessant, erst diese gibt dir Aufschluss über das mögliche Vorgehen in der Behandlung. Bei manchen meiner Patienten reicht es schon, wenn sie sich einen Klebepunkt an die Stellen im Raum zu kleben, an denen ihr Blick immer wieder hängen bleibt (z.B. Fenster, Fernseher...). Diese Punkte erinnern sie immer wieder daran, mit der Aufmerksamkeit zur eigentlichen Aufgabe zurück zu kehren. Bei anderen hilft eine Veränderung der Arbeitsplatzgestaltung und -umgebung (Lautstärke, Ordnung...). Andere nutzen Entspannungsübungen oder andere Rituale, bevor sie mit der eigentlichen Arbeit beginnen. Wieder andere müssen nur abwarten, die Symptomatik verbessert sich zusehends je länger sie suchtmittelfrei leben (ich arbeite in der Suchtreha). Will sagen: "Konzentrationsstörungen" haben viele Gesichter und dementsprechend vielfältig kann auch die Behandlung aussehen.
Noch eine kleine Anekdote, die verdeutlicht, wie wichtig es ist, mit dem Patienten zu besprechen,
wie genau sich die Einschränkungen bei ihm bemerkbar machen und welche Bedeutung sie für sein Leben haben:
Ich hatte vor kurzem einen Patienten, den mein Kollege aufnahm. Im Bericht stand dann "Der Patient leide unter Depressionen." Ich fragte meinen Kollegen, was das heißen solle. Denn aus diesem Satz ergeben sich leider keinerlei Anhaltspunkte für eine Behandlung, er sagt mir im Prinzip überhaupt nichts. Mein Kollege sah mich nur fragend an, ich zählte ein paar Beispiele auf, wie sich Depressionen äußern könnten. Er blieb jedoch dabei: "Ist ja wohl klar, was Depressionen sind."
Also unterhielt ich mich selbst mit dem Patienten. Das Ergebnis war folgendes:
Beruflich 16 Wochen am Stück auf Montage in bis zu 600km Entfernung vom Wohnort, erhöhter Suchtmittelkonsum am Abend in karger Monteursunterkunft, um Einsameitsgefühle und Langeweile zu bewältigen. Durch ungeregelte Überstunden 80 statt der vertraglich vorgesehenen 40 Stunden pro Woche, begünstigt durch ständige Verfügbarkeit (siehe Montage). Arbeitseinsätze immer in der Nähe von Bahnhöfen, daher ständige Verfügbarkeit von Suchtmitteln. Tägliche Arbeitsunterbrechung zur Suchtmittelbeschaffung und -konsum, unbemerkt von Arbeitgeber und Kollegen. Schlafstörungen durch die Depression, bis zu vier Nächte am Stück schlaflos. Starke Scham-, Angst- und Insuffizienzgefühle, Vermeidungsverhalten, welches diese Gefühle in der Folge noch verstärkt (lässt sich z.B. seit über einem Jahr arbeitsunfähig schreiben, damit der Arbeitgeber nicht merkt, dass er seinen Führerschein verloren hat). Vor kurzem Haus ausgebrannt und Tod zweier nahestehender Menschen (nicht im Zusammenhang mit dem Brand), der Patient ist obdachlos und lebt jetzt schon seit einigen Monaten in Notunterkünften.
Na, damit kann ich doch schon mehr anfangen. Langsam haben wir ein Vertrauensverhältnis aufgebaut und der Patient ist mittlerweile offen für ein Arbeitgebergespräch (welches er zunächst aus Scham und Angst vehement ablehnte). Wir haben herausgearbeitet, wie sein Arbeitsplatz aussehen müsste, damit er bessere Chancen hat, langfristig gesund zu bleiben. Das Ziel ist, zunächst im Arbeitgebergespräch das Versteckspiel zu beenden und dadurch Entlastung zu schaffen. Anschließend wird mit dem Arbeitgeber geschaut, ob und wie die Arbeit anders gestaltet werden kann (kürzere Montagezeiten oder auch Einsatz am Wohnort, Überstundenregelungen usw.). Der Sozialdienst kümmert sich mit dem Patienten um die entstandenen Schulden (Hausbrand, Patient war unterversichert) und um eine Wohnung. Die Mediziner haben Antidepressiva verschrieben, welche er regelmäßig nimmt und die gut anschlagen. Die Psychotherapeuten arbeiten in Form von Gruppen- und Einzeltherapie. Auch einfache Gespräche haben schon geholfen, zum Beispiel das Herausarbeiten seiner Ressourcen (welche der Patient selbst zuvor überhaupt nicht mehr sehen geschweige denn benennen konnte). Man merkt bereits eine deutliche Veränderung der Stimmung und des Verhaltens.
So viel als kleiner Exkurs. Worauf ich hinaus wollte: Wären wir bei "Er hat Depressionen" geblieben, hätten wir niemals Ansatzpunkte gefunden, wie die Behandlung konkret aussehen könnte. Versuche, zu hinterfragen, wenn dir Patienten so vage Angaben machen. Es lohnt sich wirklich, in die "Vorarbeit" Zeit und Mühe zu investieren.
Viel Erfolg und einen guten Wochenstart! Kinaa
Noch etwas, hatte ich fast vergessen: Cogpack sorgt (meiner Ansicht nach) in erster Linie dafür, dass der Patient "im Cogpacken" besser wird. Ob das Auswirkungen auf "die Konzentration im Allgemeinen" hat, wage ich zu bezweifeln. Ansichtssache, darüber lässt sich trefflich streiten. Nur noch so als Denkanstoß.
Nicht alles, was Hand und Fuß hat, hat auch Herz und Hirn.