Anzeigen:
Sie sind hier: Forum >> Ergotherapie-Forum >> Allgemeine Themen >> Handwerk und der aktuelle Wandel der Ergotherapie

Diskussionsforum

Handwerk und der aktuelle Wandel der Ergotherapie

Optionen:
10. Juni 2017 13:51 # 1
Kwick_Kiwi
Kwick_Kiwi
Ehemaliges Mitglied
Beiträge: 64

Geändert am 12.06.2017 22:04:00
Hallo,
mein Examen habe ich im Okt. 16 gemacht und komme so zu sagen frisch aus der Ausbildung, die ja sehr "Handwerkslastig" ist/war. Sehr zeitintensiv haben wir viele verschiedene handwerkliche Techniken gelernt, ua. auch Metall - was ich in der Praxis noch nie angewandt habe (aber im AT Bereich wohl sehr wichtig ist).

Jedenfalls war ich ziemlich geschockt, als ich im Arbeitsleben startete und merkte, wie wenig Handwerk von den Einrichtungen (MoFu) gefragt und angewandt wird. Zwar war alles an Material vorhanden, es gammelte jedoch in den Schränken vor sich hin und man sagte mir, Handwerk ist nicht mehr zeitgemäß. Ich hatte und habe immer noch das Gefühl, mit Ausnahme von Handwerk so wenig praktische Techniken vermittelt bekommen zu haben und bin fast traurig, weil ich den Eindruck habe, dass von uns immer mehr physiotherapeutische Praxis verlangt wird.
Ich würde sagen, ich tendiere dazu ein "Hands-off-Therapeut" zu sein, dh. ich verlange viel aktiv von den Patienten und arbeite so gut wie nie passiv, wenn dann ergänzend oder bei Lähmungen natürlich. Aber Massage und Co. ist für mich nicht Ergotherapie! Als Ergänzung/Vorbereitung ja, aber nicht grundsätzlich, da Ergo für mich = selbstständiges Handeln bedeutet, was ich den Patienten auch immer wieder sage. Mittlerweile habe ich eine sehr gute Fobi in manualtherapeutsiche Techniken der OEx (Im Ziff in Essen, sehr zu empfehlen) gemacht, und setze die passive Technik ergänzend, als Vorbereitung ein- dann geht's ans aktive. Das wurde uns in der Fobi selbst auch ans Herz gelegt: ergänzend!

Wie erlebt ihr den Wandel? Ist Handwerk wirklich nicht mehr aktuell? ::confused::
Ich finde Handwerk für Patienten im MoFu Bereich grade so schön, weil man ein sichtbares Ergebnis seines eigenen Schaffens hat, ein sichtbares Erfolgserlebnis! ::smile::
10. Juni 2017 16:43 # 2
Registriert seit: 04.08.2002
Bundesland: Nordrhein-Westfalen
Beiträge: 1242

Hallo,
Anfang der 2000er wurde handwerklicher Unterricht, soviel ich weiss, um 500 Unterrichtsstunden gemindert. Ich kann nicht sagen, das wir, 2002 - 05, viel Handwerksunterricht hatten.
In den Einrichtungen ist es stark vom Konzept und der Ausstattung abhängig. In Praxen habe ich es sehr unterschiedlich erlebt, aber es bedeutet halt ein mehr an Vorbereitung und Aufräumen in den meist 45 Minuten.

Schönes Wochenende
Signaturen lesen ist Zeitverschwendung!
11. Juni 2017 00:37 # 3
Registriert seit: 16.02.2007
Beiträge: 185

Zum zeitlichen Verlauf vermag ich keine fundierte Aussage zu treffen.
Zum Thema Handwerk an sich vertrete ich jedoch folgende Einstellung:
Der Schwerpunkt ist und sollte das klientenzentrierte arbeiten sein. Da ich somit interessennah und zielorientiert arbeite, komme ich nicht in die von dir beschriebene Bedrouille (zumindest was das Handwerk anbelangt). Der Patient wird zu Beginn über die Inhalte der Ergotherapie aufgeklärt. Speziell im Bereich der Psychiatrie weise ich auf die Möglichkeit handwerklich zu arbeiten explizit hin. Im motorisch/neurologischen Bereich ist es für mich dann sinnvoll, wenn ich a) damit eine höhere Motivation erziele oder b) es aus anderen Gründen anderen Techniken vorzuziehen ist (etwa bewusste Wahrnehmungslenkung - weg von z.B. Schmerzfokus, anbahnen komplexerer Bewegungen, wird im Alltag benötigt etc.). Natürlich habe ich als TP auch oft einen großen Einfluss, gerade wenn der Patient sich nicht aktiv einbringen möchte ("Sie wissen schon, was das Beste für mich ist), aber die Entscheidung für die Maßnahme erfolgt ja stets aus der Vorüberlegung, was die geeignetste Methode zur Erreichung des Ziels ist (...clinical reasoning). Gleiches gilt für die Pädiatrie. Handwerk kann für Kinder sehr motivierend sein, genauso aber auch sehr frustrierend. Es kommt immer darauf an, was ich erreichen möchte.
Wenn der Patient es also ablehnt, nützt es nichts "sein Ding durchzuziehen". Das kann einem bei allem möglichen passieren. Will der Patient bspw. trotz aller Erklärungen nicht mit mentaler Imagination arbeiten, sondern den Arm passiv mobilisiert bekommen, dann kann ich das so akzeptieren oder an einen anderen Therapeuten abgeben. ::wink::::rolleyes::
11. Juni 2017 09:33 # 4
Registriert seit: 10.02.2005
Bundesland: Niedersachsen
Beiträge: 654

Ich arbeite in meiner eigenen Praxis viel und gern mit Handwerk.
Bei der Arbeit mit Kindern ist es ein guter Motivationsfaktor, und mit Handwerksprojekten kann ich kognitiv, emotional und motorisch viel erreichen, ohne dass das Kind sich "behandelt" fühlt. Außerdem kann der Patient etwas mit nach Hause nehmen, das ihn und seine Umwelt immer daran erinnert, dass er neue Ressourcen gewonnen hat.
Bei bestimmten Erwachsenen klappt das auch gut. Natürlich setze ich denen kein Handwerksprojekt vor, sondern bespreche mit ihnen die Ziele, die damit erreicht werden könnten und frage sie, ob sie diesen Weg gehen möchten.
Am liebsten arbeite ich mit Holz, weil es sowohl motorisch anspruchsvoll ist als auch eine gute Handlungsplanung erfordert.
Ich habe für mich festgestellt, dass es Sinn macht, wirklich gutes Werkzeug bereitzustellen, mit dem man gut arbeiten kann, und keinen Baumarktmüll, der nur frustrierende Ergebnisse zeitigt.
Da ich mein eigener Chef bin, kann ich natürlich frei entscheiden und bin weder an Gruppenzwänge noch an Vorgesetzte gebunden. Und die Resonanz ist durchweg positiv. Man sollte sich aber auch wirklich attraktive Projekte erarbeiten und den Anspruch an die Fähigkeiten und Wünsche des Patienten anpassen. Ich betone gern, dass es sich um Handwerk handelt, und nicht um Basteln.

Karsten
R46.2 – und Spaß dabei!
25. Juni 2017 11:37 # 5
Registriert seit: 08.04.2015
Beiträge: 8

Geändert am 25.06.2017 11:37:00
Hallo,

ich bin Dozentin an einer Ergotherapieschule und seit mitlerweile 7 Jahren in der Ausbildung tätig.

Würde dir gerne einen kurzen Exkurs geben zum Thema Handwerk. Tatsächlich ist es so, dass sich die Zeit in einem Wandel befindet und es oft zweierlei Meinungen zum Thema Handwerk gibt. Hierbei ist jedoch nicht entscheidend was du in der Therapie einsetzt, denn alle Mittel und Medien sind nur "Mittel zum Zweck", um es mal salopp auszudrücken. Das bedeutet, dass du Handwerk ja nicht in deiner Arbeit einsetzt, weil es gerade modern oder nicht modern ist. Handwerke erfordern ein hohes Maß an Fähigkeiten und Fertigkeiten, welche für die Umsetzung benötigt werden. Bspw. kognitve Aspekte, wie Konzentration, Ausdauer, Kulutrtechniken, Aufgabenverständnis usw. oder der motorische Aspekt hinsichtlich Feinmotorik, Grobmotorik, Koordination, Kraft und Kraftdosierung oder auch sensomotorisch-perzeptive Aspekte wie taktile Wahrnehmung, visuelle Wahrnehmung z.B. Raum-Lage. Außerdem noch psychosoziale/psychisch-emotionale Aspekte wie Teamfähigkeit, Frustrationstoleranz usw. ... Um nur einige wenige Aspekte von Fähigkeiten und Fertigkeiten zu nennen. Es ist immer die Frage, für welche spätere ADL-Tätigkeit ich den Klienten fördern möchte. Insbesondere dann, wenn ein Klient Erfolgserlebnisse benötigt ist Handwerk eine gute Möglichkeit in vielen Fällen die Erfolge zu ermöglichen, die ein Klient evtl. benötigt für eine erfolgreiche Compliance.

Häufig ist es so, dass einige Handwerke, welche man in der Ausbildung kennen lernt, später nicht angewendet werden. Es kommt darauf an, in welchem Bereich man arbeitet und wie diese einrichtung konzeptionell aufgebaut ist. Hier würde ich trotzdem Handwerk einsetzen, sollte es für die Klienten eine sinnvolle Betätigung sein. Mach dir Gedanken darüber, worin im Alltag deine Klienten ihre Einschränkungen haben, was du genau födern willst und wie du es erreichen kannst, also auch ggf. mit Handwerkseinsatz. Das Medium sollte natürlich passend sein. Ein Tischler/Schreiner wird eher Holz bearbeiten als vlt. Seidenmalerei zum Beispiel.

Liebe Grüße
::smile::
26. Juni 2017 08:56 # 6
Sina12
Sina12
Ehemaliges Mitglied
Beiträge: 121

Geändert am 26.06.2017 08:59:00
Hallo,
ein sehr interessantes Thema, dessen Haltung ich gegenüber schon mehrmals eines besseren belehrt worden bin.

In den Ausgaben der „Ergotherapie & Rehabilitation“ (DVE) gibt und gab es dazu ja sehr gute Beitrage (wie ich empfinde). Zum Einen fehlte mir persönlich im Medium Handwerk lange tatsächlich die Klientenzentrierung und die Ausrichtung auf bedeutungsvolle Betätigungen („Ziel ist, sie bei der Durchführung für sie bedeutungsvoller Betätigungen in den Bereichen Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit in ihrer persönlichen Umwelt zu stärken.“(Definition DVE).

Zitat / Sunsann1986 hat geschrieben:
„Bspw. kognitve Aspekte, wie Konzentration, Ausdauer, Kulutrtechniken, Aufgabenverständnis usw. oder der motorische Aspekt hinsichtlich Feinmotorik, Grobmotorik, Koordination, Kraft und Kraftdosierung oder auch sensomotorisch-perzeptive Aspekte wie taktile Wahrnehmung, visuelle Wahrnehmung z.B. Raum-Lage. Außerdem noch psychosoziale/psychisch-emotionale Aspekte wie Teamfähigkeit, Frustrationstoleranz usw. ...“

Genau DAS kann meiner Meinung nach nicht der Grund sein, weshalb ich Handwerk anwende. Da muss ich einfach appellieren, sich erneut mit den Unterschieden von Begriffen wie Beschäftigung und Betätigung auseinander zu setzen bzw. sich mit den entsprechenden Modellen auseinander zu setzen, denen wir diese Begriffe entnehmen.

Im Beitrag „Denk- und Handlungsspielräume eröffnen“ aus der „Ergotherapie & Rehabilitation“ wird verdeutlicht, dass Ergotherapeuten besonders im Akutbereich mit Klienten arbeiten, deren Bewältigung des Alltags noch nicht im Vordergrund steht. Hier geht es den Klienten um etwas ganz anderes. Und da können und müssen wir Betätigungsorientierung im Hinblick auf Handwerk ganz neu definieren. Ich persönlich bin der Meinung, dass wir über diese herkömmliche Diskussion, Handwerk ja/nein abschließen können. Wir sollten dieses Thema auf ganz neue Pfeiler stellen, die mit Klientenzentrierung und (für den Klienten bedeutungsvoller) Betätigung durchaus einher gehen können. Wie gesagt, es gibt auch an anderer Stelle gerade gute Beiträge dazu, die ich so kurz gar nicht wiedergeben kann. Es bleibt spannend.
Optionen:

nach oben scrollen