Internetabhängige leiden oft unter Begleiterkrankungen, vor allem unter depressiven Störungen, Angsterkrankungen und ADHS.
An der LWL-Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Ruhr-Universität erforscht Dr. med. Bert te Wildt
den Zusammenhang zwischen Medienabhängigkeit und anderen Erkrankungen.
Foto: Nelle, Montage: Arps, © RUBIN
Per WhatsApp chatten anstatt sich mit Freunden zu treffen, die Urlaubsfotos auf Facebook posten anstatt sie persönlich zu zeigen,
Computer spielen anstatt auszugehen. Die digitalen Medien nehmen im Alltag heute einen großen Stellenwert ein. Manche Menschen kommen
einfach nicht mehr davon los und beschäftigen sich exzessiv im Netz.
Schätzungen zufolge sind etwa 1 % der Deutschen im Alter zwischen 14 und 64 Jahren internetabhängig, was einer halbe Million Menschen entspricht.
Schaut man nur auf die 14- bis 16-jährigen, sind es sogar 4 %. Das ergab eine vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte Studie.
Die meisten Betroffenen spielen exzessiv Online-Computerspiele, oft mehr als fünf Stunden am Tag, andere sind süchtig nach Cybersex oder
ständig in sozialen Netzwerken unterwegs.
Zusammenhang zwischen Medienabhängigkeit und anderen Erkrankungen
Dr. Bert te Wildt verbringt etwa drei Viertel seines klinischen Arbeitsalltags mit internetabhängigen Patienten.
Drei bis fünf von ihnen kommen pro Woche auf der Suche nach Hilfe in die LWL-Klinik. „Betroffen sind vor allem junge Männer, die zumeist schon
in einem Übermaß mit Internet und Computerspielen aufgewachsen sind“, sagt der Mediziner. „Die Heranwachsenden kommen mit den zunehmenden Anforderungen
an Leistungen und Autonomie nicht zurecht. Im Cyberspace spielen sie den strahlenden Helden.“ Wie bei Substanzabhängigkeiten geraten die
Betroffenen in einen Teufelskreis der Sucht. „Am Ende hält ausschließlich die virtuelle Welt noch positive Erlebnisse bereit“, so te Wildt.
Am LWL-Universitätsklinikum der RUB erforscht er unter anderem, wie die Medienabhängigkeit mit anderen Erkrankungen zusammenhängt.
Dazu erfasste er mit seinem Team die Begleiterkrankungen, unter denen internetabhängige Menschen häufig leiden, das sogenannte Komorbiditätsprofil.
Um dieses zu ermitteln, führten die Wissenschaftler mit 25 Patientinnen und Patienten strukturierte klinische Interviews durch, mit denen sich verschiedene
psychische Störungen diagnostizieren lassen. Alle getesteten Internetabhängigen wiesen mindestens eine Begleiterkrankung auf. 70 % von ihnen
litten an einer depressiven Störung. Außerdem traten Angsterkrankungen auf, insbesondere soziale Phobien, und das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom,
kurz ADHS.
Foto: © RUBIN, Grafik: VISUELL Marketing
Im Vergleich: Begleiterkrankungen bei Alkoholabhängigen
Zum Vergleich ermittelten die Forscher das Komorbiditätsprofil von Alkoholabhängigen. Es sah ganz ähnlich aus: depressive Störungen, Angsterkrankungen und ADHS.
Im Gegensatz zu Internetabhängigen war allerdings nur etwa jeder zweite Alkoholabhängige von einer Begleiterkrankung betroffen.
„Diese Ergebnisse verdeutlichen die große Bedeutung der Komorbidität für die Internetabhängigkeit“, resümiert Bert te Wildt.
Bleibt die Frage, ob die Internetabhängigkeit zuerst da war oder ob sie nur Folge einer anderen Erkrankung ist. „Das ist natürlich keine Einbahnstraße“,
sagt der Mediziner, „sondern bedingt sich gegenseitig.“
Persönlichkeitsstrukturen können Internetabhängigkeit begünstigen
Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass gewisse Persönlichkeitsstrukturen eine Internetabhängigkeit begünstigen könnten.
Mit standardisierten psychologischen Tests bestimmten Bert te Wildt und seine Kollegen Persönlichkeitsmerkmale und -störungen von 30 erwachsenen
internetabhängigen Patienten. 33 % der Teilnehmer wiesen eine selbstunsicher-vemeidende Persönlichkeitsstörung auf; sie sind ängstlich im Kontakt mit anderen,
fühlen sich minderwertig und ziehen sich zurück. 27 % litten an einer depressiven Persönlichkeitsstörung, 13 % an einer
abhängigen Störung mit Trennungsängsten. Noch einmal 13 % zeigten einen negativistischen Charakter, das heißt, sie leisten passiv Widerstand
gegen Anforderungen im sozialen und beruflichen Bereich, fühlen sich oft missverstanden und ungerecht behandelt. Die Internetabhängigkeit geht also
häufig mit depressiven und ängstlichen Symptomen einher. Für einen Teil der Betroffenen könnte sie daher auf ähnlich gestörte Persönlichkeitsstrukturen
zurückzuführen sein, schlussfolgert te Wildt.
Internetabhängigkeit häufig nicht erkannt
Mit seinem Team untersuchte der Bochumer Mediziner auch, ob sich die Internetabhängigkeit als Begleiterkrankung in anderen Patientengruppen findet.
Zu diesem Zweck befragten die Wissenschaftler Patienten depressiver Störung und ADHS. In beiden Gruppen stellten sich 24 % der Teilnehmer
als internetabhängig heraus. Diese Sucht war weder den Patienten selbst noch den behandelnden Therapeuten bewusst gewesen. „Das spricht dafür, dass
Internetabhängigkeit häufig nicht erkannt wird“, sagt te Wildt. Auf eine hohe Dunkelziffer weisen auch Daten aus einer Studie mit Personen hin, die
exzessiv Ego-Shooter spielen, mindestens vier Stunden pro Tag über einen Zeitraum von zwei Jahren. Knapp die Hälfte der untersuchten jungen Männer
erfüllte die Kriterien für eine Computerspielabhängigkeit, ohne jemals zuvor psychisch krank gewesen zu sein.
© RUBIN, Foto: Nelle
Die Diagnose stellte Bert te Wildt anhand der Kriterien des Fachverbandes für Medienabhängigkeit.
Inzwischen hat die „American Psychiatric Association“ die Computerspielabhängigkeit auch in das weitverbreitete Diagnosehandbuch „DSM“
(Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) aufgenommen (siehe Info). Für eine generelle Internetabhängigkeit beziehungsweise weitere
Subformen von dieser gibt es bislang aber keine allgemeingültigen Kriterien. Ebenso fehlt eine spezielle Behandlung, deren Wirksamkeit
wissenschaftliche belegt ist. In der Praxis werden daher die gleichen verhaltenstherapeutischen Ansätze angewendet, die sich in der Therapie
anderer Süchte bewährt haben.
Alternative Handlungsspielräume erforderlich
„Allerdings kommt es bei der Behandlung von Internetabhängigen darauf an, nicht nur das Suchtverhalten weg zu therapieren“,
gibt Bert te Wildt zu bedenken. „Eine Befreiung aus der Abhängigkeit im Cyberspace gelingt nur dann, wenn sich die Patienten alternative
Handlungsspielräume erschließen, in denen positive Erlebnisse und auch Erfolge in der realen Welt zu erreichen sind.“
In der Medienambulanz der LWL-Universitätsklinik für Psychosomatik und Psychotherapie durchlaufen Betroffene eine Gruppentherapie,
welche zunächst darauf abzielt, das Suchtverhalten zu vermindern oder zu stoppen und neue Handlungsspielräume zu eröffnen. In der anfänglichen
Entzugsphase geht es um möglichst konkrete Verhaltensänderungen. Langfristig bedürfen die Patienten in der Regel auch einer weiterführenden
Psychotherapie, welche die tiefer liegende Psychopathologie berücksichtigt, einer Suchtverschiebung entgegenwirkt und dauerhaft die Lebensqualität
verbessert. Hier finden tiefenpsychologische Psychotherapieverfahren Anwendung.
In der Therapie der Medienambulanz sollen in Zukunft auch Computer und Internet zum Einsatz kommen. Kontraproduktiv?
„Es ist wenig hilfreich, negative und positive Wirkungen der neuen digitalen Medien gegeneinander auszuspielen“, sagt Bert te Wildt.
„Wir wollen die Menschen dort abholen, wo sie sich die meiste Zeit ihres Lebens aufhalten, nämlich im Internet. Es geht darum, mithilfe eines
integrativen Ansatzes die neuen bahnbrechenden Technologien dahin zu führen, dass sie dem Menschen dienen und nicht umgekehrt.“
Info
DIAGNOSEKRITERIEN FÜR COMPUTERSPIELABHÄNGIGKEIT IM DSM-5
-
Gedankliche Vereinnahmung.
Der Spieler muss ständig an das Spielen denken, auch in Lebensphasen, in denen nicht gespielt wird (zum Beispiel in der Schule oder am Arbeitsplatz).
- Entzugserscheinungen.
Der Spieler erlebt vegetative (nicht physische oder pharmakologische) Entzugssymptome, wie Gereiztheit, Unruhe, Traurigkeit,
erhöhte Ängstlichkeit, oder Konzentrationsprobleme, wenn nicht gespielt werden kann.
- Toleranzentwicklung.
Der Spieler verspürt im Laufe der Zeit das Bedürfnis, mehr und mehr Zeit mit Computerspielen zu verbringen.
- Kontrollverlust.
Dem Spieler gelingt es nicht, die Häufigkeit und Dauer des Spielens zu begrenzen und die Aufnahme und Beendigung des Spielens selbstbestimmt zu regulieren.
- Fortsetzung trotz negativer Konsequenzen.
Der Spieler setzt sein Spielverhalten fort, obwohl er weiß, dass dieses nachteilige psychosoziale Auswirkungen auf ihn hat.
- Verhaltensbezogene Vereinnahmung.
Der Spieler verliert sein Interesse an vormals geschätzten Hobbys und Freizeitaktivitäten und interessiert sich nur noch für das Computerspielen.
- Dysfunktionale Stressbewältigung.
Der Spieler setzt das Computerspielen ein, um damit negative Gefühle zu regulieren oder Probleme zu vergessen.
- Dissimulation.
Der Spieler belügt Familienmitglieder, Therapeuten oder andere Personen über das tatsächliche Ausmaß seines Spielverhaltens.
- Gefährdungen und Verluste.
Der Spieler hat wegen seines Computerspielens wichtige Beziehungen, Karrierechancen oder seinen Arbeitsplatz riskiert oder verloren oder seinen Werdegang in anderer Weise gefährdet.
Quelle:
Ruhr-Universität Bochum,
RUBIN Wissenschaftsmagazin