Geändert am 10.08.2011 22:50:00
Zitat:
Hallo Psycholeot(inn)en,
leider bin ich "nur" ein durch Apoplex betroffener "Hemianoptiker".
Als Ingenieur habe ich mich während meiner fast vierzig Berufsjahre immer nur für Methoden begeistern können, deren Erfolg real erkennbar, also nicht nur "geglaubt" wurde.
Bezüglich jeglicher Therapie einer Hemianopsie halte ich daher erfahrungsgemäß Kompensation für sinnvoll, Lichtreize - zumindest als Therapie - für ziemlich sinnlos.
Bei jeglicher Leistung unseres Wirtschaftssystems erwarte ich (mit vertraglicher Festschreibung, natürlich) für mein Geld die Erfüllung eines geschuldeten Erfolgs. Wieso sollte dies bei einer Therapie anders sein?
Warum sollte meine Krankenkasse oder ich für solche Leistungen Geld ausgeben?
Für Erfolgsgarantien werde ich meine Ohren weit offen halten, für den Rest nicht mal meine Nase.
Guten Abend Abakus,
Was Sie da ansprechen, ist ein ganz zentrales Thema innerhalb jeglicher therapeutischer Auftragsklärung. Aus Ihrem Berufsleben dürften Ihnen ja die Begriffe "Werksvertrag" und "Dienstvertrag" geläufig sein.
Man kann auch innerhalb von therapeutischen Arbeitsbeziehungen - um nichts Anderes handelt es sich ja bei der Patient-Therapeut-Beziehung - sowohl Werk- als auch Dienstverträge schließen.
Im Falle der ergotherapeutischen Behandlung eines Patienten mit Hemianopsie würde das jeweils folgende Konsequenzen haben:
a) Werkvertrag: Nachdem Ihr Problem umrissen ist (Teilhabe, Aktivität, Funktion) und ich eine erste Prognose treffen kann (indem ich Ihre Ressourcen ermittelt habe), legen wir ein ganz klar formuliertes Ziel fest, nach der "SMART"-Regel, z.B. "Wenn ich mittig zwei Meter vom Bildschirm entfernt vor dem TV sitze, dann kann ich das gesamte Bild gut erkennen - erreicht innerhalb der nächsten zwei Monate".
Danach lege ich für Sie einen Therapieplan fest und mache mit Ihnen einen Therapievertrag. Sie erklären darin, dass Sie sich an meine Anweisungen für das Eigenübungsprogramm halten und alle Termine - soweit möglich - einhalten werden.
Ich behalte mir vor, zu überprüfen, ob Sie Ihre Vereinbarung eingehalten haben. Tun Sie das nicht, ist der Werkvertrag Ihrerseits nicht erfüllt.
Mein Problem ist dabei, dass ich eine ziemlich genaue Prognose treffen muß und paßgenaue Therapieansätze entwerfen. Ihr Problem dabei ist, dass Sie wenig Einfluß auf die Therapieinhalte nehmen können und das von mir quasi diktierte Eigenübungsprogramm erfüllen müssen.
Übertragen auf die Verhältnisse in der "freien Wirtschaft" hieße das: Der Bauunternehmer garantiert, dass ein ganz bestimmtes Haus korrekt bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erstellt wird. Die Kunden garantieren, dass sie regelmässig und pünktlich zahlen, die Baumaßnahmen nicht behindern und alle Formalien pünktlich und korrekt erfüllen.
b) Dienstvertrag: Der erste Teil, bis zur Zielformulierung verläuft genauso wie beim Werkvertrag. Die Therapie allerdings wird fortlaufend gemeinsam entwickelt. D.h. ich mache mir ein Bild, wie Sie bzw. Ihr Gehirn mit der Hemianopsie und deren Einschränkungen auf den verschiedenen Ebenen umgehen und versuche, mit Ihnen gemeinsam Möglichkeiten der Optimierung zu finden. Zu jedem Termin wird die jeweilige Maßnahme bzw. Strategie dabei angepaßt. Funktioniert etwas nicht, bzw. kommen Sie mit der Umsetzung in den Alltag nicht zurecht, dann wird das Ganze eben entsprechend verändert.
Das Ziel wird bei diesem Vorgehen bewußt als Arbeitshypothese formuliert. Evtl. wird es ja nie erreicht, das weiß man vorher nicht, aber es ist ein Maßstab für die Qualität des gemeinsamen Prozesses.
Wesentlich bei dieser Art der Therapiegestaltung ist, dass Sie anhand der gemeinsamen Arbeit lernen sollen, sich fortan selbst zu helfen, quasi selbst zu therapieren, indem Sie die Strategie der Analyse und Lösungsoptimierung von mir erlernen.
Mein Problem ist dabei, dass ich hoch flexibel auf Ihre jeweiligen, sich ja ständig ändernden Fertigkeiten eingehen muß, Ihr Problem ist, dass ich Ihnen nur sehr wenig Verantwortung abnehme, d.h. ich z.B. nicht kontrolliere, ob Sie etwas in den Alltag umsetzen. Manche Menschen, v.a. die, denen es schwer fällt, sich zu Veränderungen zu motivieren, brauchen solche "fremdbestimmten" Aufgaben. "Befähigend" ist das sicher nicht, aber üblich in der derzeitigen Medizin.
Sie müßten also eine gewisse Motivation und Selbstverantwortung mitbringen, auch Eigendisziplin und auch damit leben können, dass ich keine "Heilungsgarantie" für Sie habe.
Die gibt es nämlich innerhalb der Therapie nur bei an sich sehr fest umrissenen strukturellen Defiziten, z.B in der Chirurgie. Und selbst da wäre ich skeptisch, wenn mir ein Chirurg etwas garantiert. Seriöser wäre es, wenn er von Wahrscheinlichkeiten spricht. Denn die Aufgabe des Experten ist es nicht "Übungen" oder "Maßnahmen" anzubieten, sondern die jeweils die Intervention zu finden, die die beste Prognose verspricht.
Übertragen auf das Beispiel "Bau": der Architekt stellt seine Zeit und sein Wissen zur Verfügung. Das Projekt heißt: Haus bauen. Er übernimmt aber keine Verantwortung dafür, dass die Baufirma ordentlich arbeitet und auch nicht dafür, dass der Bauherr alle anderen pünktlich bezahlt und ansonsten keine "Scherereien" macht. Diese Verantwortung trägt der Bauherr, oder er gibt sie an den Bauleiter ab.
Zur Hemianopsie: Nervenzellen sind in der Lage neue Verbindungen herzustellen. Grundsätzlich. Davon sind auch die, die das Sehen ermöglichen nicht ausgeschlossen.
Ab und an habe ich Menschen in Behandlung, die an einer Hemianopsie leiden. Auch ich habe noch gelernt, dass man dann "nur" kompensieren könne. Das stimmt aber nicht. Der Misserfolg der damaligen funktionellen Therapie lag am Therapiesetting selbst. Es war auf "Übungen" angelegt, nicht auf Lernen.
Der Ehemann einer unserer Patientinnen mit Hemianopsie hat zusammen mit einer meiner damaligen Mitarbeiterinnen eine auf seine Frau zugeschnittene Therapiesoftware entwickelt. Diese Frau hat damit recht schnell ihr Blickfeld erheblich erweitern können. Das Programm funktionierte nicht mit "Blitzen" sondern mit farbigen grafischen Symbolen, die langsam, aber nach dem Zufallsprinzip in die Mitte des Bildschirms rückten. Die Aufgabe der Patientin war, ihren Kopf mittig auf einen Punkt auszurichten, den Blick ebenfalls und nach Hinweisen/quasi Eingebungen zu suchen, welches Symbol mit welcher Farbe erscheint. Also das unbewußte Sehen am äußersten Rand bewußt zu nutzen und zu trainieren. Sie hat sich dabei immer selbst eine Erfolgsquote gesetzt, um motiviert zu bleiben.
Das Ganze hat den Ehemann (PC-Spezialist) ein wenig Zeit gekostet und uns, was unser "clinical reasoning" angeht, herausgefordert. Aber so arbeiten wir eh und das macht unseren Beruf interessant und unsere Behandlungen erfolgreich.
Das Programm mit den "Lichtblitzen" wurde von vorneherein als Studie angelegt. Studien sind so kreiert, dass die Erfolge leicht überprüfbar, meßbar sind und das Setting reproduzierbar. Die Inhalte müssen deshalb nicht optimal sein. Sie sind aber optimal (d.h. kostengünstig) zu erforschen. Das sollte man bei "wissenschaftlich" empfohlenen Therapiemethoden nicht vergessen.
Wenn jemand das hier liest und Interesse hat, freue ich mich über eine Privatmail. Keine Angst, ich verlange keine 3000 Euro für das Programm
Nein, ich verkaufe da nichts, gebe nur die Idee und freue mich dann über einen Erfahrungsaustausch. Davon profitieren meine Patienten und ich am meisten
Alles Gute wünscht
Oetken1