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Therapie während Alkohol-Entzug

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11. August 2014 12:23 # 1
Registriert seit: 30.07.2001
Beiträge: 36

Hallo Zusammen,

ich arbeite in einem Akut-Krankenhaus mit Schwerpunkt Geriatrie und Orthopädie. Nun haben wir immer mehr Patienten die hier mit einem (Alkohol) Entzug anfangen und dann später bei Stabilisierung in die angegliederte LVR Klinik gehen. Nun werde ich von den Ärzten der Inneren gefragt, ob ich mit diesen Patienten schon mal mit der Therapie beginnen könnte. Leider habe ich keinerlei Erfharung in diesem Bereich und bin wie gesagt überwiegend mit Geriatrie und Orthopädie beschäftigt. Ich würde mich sehr über Anregungen zur Therapiegestaltung freuen, insbesonder mit Anmerkungen worauf ich achten soll. Bin über jeden Tipp dankbar!
16. August 2014 13:28 # 2
Registriert seit: 20.05.2007
Bundesland: Schleswig-Holstein
Beiträge: 722

Hallo silky82,

wie lang ist die Verweildauer? In der Entgiftung wird sie ja vergleichsweise eher kurz sein, was deine Handlungsmöglichkeiten von vornherein einschränkt.
Wie ist das Konzept in der anschließenden Entwöhnungsbehandlung? Deines wäre, wenn ich das richtig verstanden habe, darauf abzustimmen, damit sinnvoll angeknüpft werden kann. Gibt es eine Übergabemöglichkeit, wenn ein Patient in die Entwöhnung wechselt oder wird dein Angebot isoliert für sich stehen?
Welches sind die Rahmenbedingungen? Welche Räumlichkeiten, Materialien und Ausstattung stehen dir zur Verfügung, welcher zeitliche Rahmen? Welche Sozialform ist vorgesehen? Hat dein Arbeitgeber bestimmte Ansprüche/Vorstellungen von deiner Arbeit in der Entgiftung?
Wie sieht das Angebot für diese Klientel bisher aus? Was wird bereits durch andere Berufsgruppen abgedeckt?

Wenn möglich, würde ich zunächst bei den Kollegen in der Entwöhnung hospitieren und den Austausch mit ihnen suchen, um mir ein Bild zu machen.

Ich würde mein Konzept auf zwei Schwerpunkten aufbauen, die sich auch ganz gut miteinander verbinden lassen:

Ablenkung/Beschäftigung
Eine Entgiftung ist mit Leid und Schmerzen verbunden, außerdem sind viele Patienten aufgrund der Ereignisse, die letztendlich zur Entgiftung geführt haben (meist persönliche "Dramen" wie körperlicher und/oder psychischer Zusammenbruch, belastende Szenerien in der Familie oder bei der Arbeit etc.) noch aufgewühlt und instabil. Zunächst geht es darum, die Entgiftung zu überstehen, durchzuhalten. Dabei kann Beschäftigung und Ablenkung helfen. Therapie im Sinne der Bearbeitung tiefgründiger Themen ist zu diesem Zeitpunkt aufgrund der Verfassung der Patienten oft noch nicht umsetzbar und wird auch durch die kurze Verweildauer erschwert.
Bei der Wahl der Maßnahmen ist die Gesamtkonstitution der Patienten zu berücksichtigen. Viele leiden unter Schmerzen, Schlafstörungen sowie eingeschränkter kognitiver und körperlicher Leistungsfähigkeit, das Durchhaltevermögen kann dementsprechend gemindert sein. Hinzu kommt oft Gereiztheit und Ungeduld, ich würde daher auf Angebote mit geringem Frustrationspotential zurückgreifen.

JA sagen
In der Suchttherapie wird sich viel mit dem Thema "Nein sagen" befasst. Meiner Erfahrung nach ist das häufig nicht die "Baustelle", um die es eigentlich geht. Viel mehr als um das Nein-Sagen zur Droge geht es um das JA-Sagen zu etwas anderem, das dem Patienten wichtig ist und das er nicht haben kann, solange er weiterhin konsumiert. Anders ausgedrückt: Es geht darum, positive Motivatoren zu finden, sich nicht nur damit zu beschäftigen, was der Patient nichtwill, sondern auch damit, was er denn statt dessen möchte.

Ausdruckszentrierung bietet sich an, um den Blick auf Positives zu lenken, z.B. Bilder, Collagen oder Texte unter der Fragestellung "Was bereitet mir Freude?" oder "Wenn das Leben ein Wunschkonzert wäre,..." zu gestalten. Dabei ist allerdings Fingerspitzengefühl gefragt. Es gibt manchmal Patienten, denen in ihrer momentanen Lebenssituation nichts einfällt, was ihnen Freude bereitet oder die unter Depressionen leiden und denen es schwer fällt, einen positiven Blickwinkel einzunehmen. Bei diesen Patienten kann die Stimmung dann schnell umschlagen, es können Gefühle wie Trauer, Reue, Aggression entstehen, sodass der Schuss nach hinten losgeht.

Für diese Patienten kann all das sinnvoll sein, was "bodenständig" ist, was sie ein Stück weit im "echten Leben" verankert, also diverse AdL wie gemeinsame kleine (Verweildauer!) Projekte, gemeinsame Gestaltung von Räumlichkeiten der Station, Übernahme von "Diensten" (Tische ein- und abdecken, Verwaltung der stationseigenen Bibliothek, falls es so etwas bei euch gibt, Reinigungstätigkeiten, Übername sonstiger Verantwortungsbereiche) oder auch so etwas wie Kräuterzucht o.ä., kurz: Sinnstiftende Aufgaben/Tätigkeiten. Allen voran gemeinsames Kochen und Backen inklusive des anschließenden Genusses (essen und trinken ist wie atmen unmittelbar mit dem Leben an sich verknüpft). Auch Spaziergänge, Aufenthalte in der Natur - wenn möglich - können förderlich sein ("back to the roots" ;) ).

Dazu kommen alle leichten, unbeschwerten und zwanglosen Aktivitäten infrage, die versprechen, Freude zu bereiten, Spaß zu machen. Erlaubt ist, was gut tut z.B. lebhafte Spiele und Gruppenaktivitäten, wenn dir so etwas liegt, auch mit erlebnispädagogischen Elementen zur Erzeugung positiver Emotionen und die Wiederentdeckung von Lebensfreude/-bejahung. Die Gemeinschaft, das Erlebnis, Teil einer Gruppe zu sein, ist dabei ein bedeutsamer Faktor.

Wichtig ist m.E. auch, wie der Therapeut dies alles vermittelt. In einer so schwierigen Lebenssituation erscheint den Patienten ein "gnadenlos optimistisches Gegenüber" leicht reichlich naiv, sodass man mit so einer solchen Haltung eher Abwehr hervorruft. Also bei aller Fokussierung auf das Positive: Lieber eine empathische Haltung, die auch negative Emotionen, Stimmungen und Gedanken zulassen und anerkennen kann in Kombination mit authentischem Auftreten statt krampfhaft fröhlichem und demonstrativ optimistischem Verhalten. "Echtheit" ist hier - wie so oft - das Stichwort.

Ich hoffe, ich konnte dir ein paar Anregungen geben. Viel Spaß, viel Erfolg und viele Grüße! Kinaa
Nicht alles, was Hand und Fuß hat, hat auch Herz und Hirn.
16. August 2014 17:30 # 3
Registriert seit: 30.07.2001
Beiträge: 36

Hallo Kinaa,
vielen vielen Dank für diese ausführliche Antwort. Leider sind wir ein kleines Akut-Land-Krankenhaus mit einer LVR klinik als Nachbarn. Es gibt zu der LVR keinerlei Schnittstellen und keine Übergaben. Die Verweildauer beschränkt sich auf wenige Tage. Ich sehe es so wie du, es geht hier vor allem um Beschäftigung und Ablenkung. Leider besteht die Ergotherapie erst sehr kurz und die finanziellen Mittel sind im Moment sehr sehr beschränkt, so dass ich weder eine Küche noch einen Werkraum oder ähnliches zur Verfügung habe. Eine Stationsbiliothek gibt es nicht und das Essen wird aufs Zimmer gebracht. Wie es halt im Akut-Haus üblich ist.
Ich finde wir sind die ganze falsche Station für diesen Enzug und hoffe es wird nun nicht immer mehr werden. Nach Absprache mit den Ärzten wurden bei den zwei Fällen die jetzt da waren, die Medikament umgestellt und sie konnten nach 3 Tagen in die LVR Klinik um ziehen.
Wenn dies wirklich zur Regel werden sollte, muss ich dringend schauen, dass es Material gibt. Dacht auch schon daran ein paar Nordic Walking Stöcke an zu schaffen, so dass man in der nahen Umgebung mal für ne halbe Stunde raus kommt... wenn die Patienten dazu in der Lage sind...

Es wird weiterhin Interessant bleiben und ich werde wohl sehr kreativ werden müssen.

Vielen Dank nochmals!

17. August 2014 11:06 # 4
Registriert seit: 20.05.2007
Bundesland: Schleswig-Holstein
Beiträge: 722

Ah, okay, da hatte ich falsche Vorstellungen im Kopf ;)

Bei so einer geringen Zahl an Entgiftungspatienten geht das alles natürlich nicht.. hast du denn überhaupt einen Behandlungsraum, den du nutzen kannst, oder geht es eher in Richtung "aufsuchende Einzelbetreuung" auf dem Zimmer? Wie ist der zeitliche Rahmen? Vermutlich wird er nicht sonderlich groß sein, damit das Ganze nicht unwirtschaftlich wird.

Angesichts dessen, dass du - wenn ich das richtig verstanden habe - eigentlich einen ganz anderen Arbeitsschwerpunkt hast und die Entgiftungspatienten (nach jetzigem Stand der Dinge) eher eine Ausnahme unter der Patientenschaft darstellen, würde ich ein Konzept erarbeiten, das möglichst unkompliziert und spontan ohne großen Vor- und Nachbereitungsaufwand funktioniert und dessen Fokus auf dem Wohlbefinden des Patienten, Beschäftigung und "Hilfe zur Selbsthilfe" liegt. Dazu würde ich mir einen Pool an Medien/Möglichkeiten/Techniken zulegen und je nach Tagesform des Patienten entscheiden, was in seiner momentanen Situation und Verfassung gerade sinnvoll und hilfreich ist. Z.B.: Traumreisen/Entspannungsgeschichten, Stifte und Papier zum Malen, Zeichnen oder Schreiben, Mandalas, Spiele, die gut zu zweit spielbar sind (empfehlenswert sind die Spiele aus der "Kakerlaken"-Reihe und "Black Stories"), evtl. Musik, wenn du damit arbeiten möchtest, leichte Yoga- und Atem- und Achtsamkeitsübungen und was dir sonst noch einfällt und deinen Fähigkeiten entspricht.

Gut wäre auch, etwas zu haben, was man dem Patienten zur selbständigen Beschäftigung anbieten kann. Z.B. Rätselhefte (als Vorlage ausdrucken oder eines kaufen und in x-facher Ausführung kopieren, dann hast du nur ein Mal Aufwand damit), Papier, Malvorlagen sowie ein paar Sachen zum Verleihen wie Stifte, vielleicht ein Puzzle o.ä. Schön sind auch die zahlreichen Bücher, die selbst auszufüllen sind und zum Ziel haben, sich mit sich selbst auseinander zu setzen (z.B. das hier: Link oder dieses: Link ). Auch hier: 1x kaufen und aus Kopien Hefte anfertigen. Wahrscheinlich kommen dir der Zeit und zunehmender Erfahrung viele Ideen, sodass dein "Medienpool" stetig wächst.

Nordic-Walking-Stöcke wären so ziemlich das letzte, in das ich bei knappem Budget investieren würde. Ihre Nutzung wäre mir zu sehr abhängig vom Wetter und der Verfassung des Patienten. Ich würde eher in Materialien investieren, die möglichst voraussetzungslos nutzbar und vielseitig einsetzbar sind. Rausgehen ist super, aber das kann man auch ohne Stöcke, so kostet's keinen Cent.

ABER:
Bevor ich überhaupt irgendetwas in Richtung Konzeptarbeit unternehmen würde, würde ich:
1. In weiterbehandelnden Klinik hospitieren, mir alles anschauen und mit den erfahrenen Mitarbeitern sprechen. Vielleicht haben sie noch ganz andere Anregungen, die viel sinnvoller sind und/oder in eine ganz andere Richtung gehen als das, was ich dir hier jetzt vorschlage.
2. Das Gespräch mit meinen Vorgesetzten suchen und alle offenen Fragen klären: Was genau erwarten sie? Was genau ist mit "schon mal mit der Therapie beginnen" gemeint (bei der Kürze der Verweildauer und den Rahmenbedingungen ist ein wirklicher "Therapie"-Anspruch, der über Beschäftigung hinausgeht m.E. kaum erfüllbar)? Welcher Rahmen wird festgelegt (Zeitfenster für die Einheiten, Räumlichkeiten, Budget etc.)?
3. Ggf. in einer anderen Entgiftung hospitieren.

So weit erst mal, viele Grüße und einen schönen Sonntag! Kinaa
Nicht alles, was Hand und Fuß hat, hat auch Herz und Hirn.
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