Liebe Kollegen,
Im Voraus schon mal ein "Danke" an alle, die sich die Zeit nehmen, diesen langen Text zu lesen. Es ist schwierig, eine Person "kurz und knapp" zu beschreiben, dazu sind Menschen zu komplex. Aber ich bemühe mich, euch nicht zu sehr "zuzutexten" ;) Sollte noch etwas unklar sein, fragt gern nach.
Ich mache mir Gedanken über mögliche Behandlungsansätze für einen meiner Patienten. Er ist Mitte 30, stammt gebürtig aus Kasachstan, lebt aber schon viele Jahre in Deutschland und hat gute sprachliche Fähigkeiten. Er ist aufgrund einer Polytoxikomanie seit einigen Wochen bei uns. Er ist verheiratet und hat drei Kinder (ich weiß leider nicht aus dem Kopf, wie alt sie sind). Der Patient hat sehr klare und starre Wertvorstellungen, z.B. bezüglich der Geschlechterrollen ("Frauenarbeit" vs. "Männerarbeit", eheliche Aufgabenverteilung wie "Männer ernähren die Familie, Frauen regeln den Haushalt und den Papierkram" etc.). Er war bis vor Kurzem noch angestellt. Arbeiten ist ihm wichtig, er möchte in seinen Betrieb zurückkehren, musste nun allerdings feststellen, dass in der Zwischenzeit die Löhne deutlich gesenkt wurden und fühlt sich dadurch abgewertet. Nach außen hin demonstriert er Selbstsicherheit auf allen Ebenen und verhält sich (seinen Wertvorstellungen entsprechend) fast gänzlich unemotional, sodass es schwer ist, ihn therapeutisch zu erreichen. Reflexionen mit ihm sind sehr schwierig, weil er Emotionen und Probleme verleugnet. So spricht er z.B. auch ohne tiefergehende Emotionsäußerungen über seine Kinder. Er sagte mir, eine seiner Aufgaben sei es, Zeit mit ihnen zu verbringen. Als ich fragte, was ihm daran gut gefalle, antwortete er, ihm mache es Spaß, Quad zu fahren und sich dreckig zu machen. Kein Wort über seine Kinder an sich, die sind nur "so dabei".
Selbst wenn ein Problem für Außenstehende noch so offensichtlich ist, kann er sich nicht auf eine realistische Betrachtung der Situation einlassen, sondern beharrt auf dem Standpunkt, der ihn in das beste Licht rückt. Ein Beispiel dafür ist z.B. seine berufliche Situation. Es ist objektiv betrachtet alles andere als gesichert, dass er zeitnah ins Erwerbsleben zurückkehren wird (desolater beruflicher Lebenslauf, fehlende Qualifikationen und Leistungsnachweise usw.), aber Gespräche darüber scheitern daran, dass er einfach dabei bleibt: Es hängt alles nur von seinem Willen ab, man würde ihn überall und jederzeit mit Kusshand nehmen. Gleichzeitig ist sein Beruf auch das einzige, wofür er im Ansatz so etwas wie Leidenschaft aufbringen kann, was ich ebenso faszinierend wie auch etwas unheimlich finde, denn er ist Schlachter und zerteilt Rinder im Akkord. Tiere töten und zersägen findet er super, passt auch gut zu seiner etwas archaischen Auffassung der Männerrolle. Ich glaube allerdings auch, er kokettiert ein bisschen damit, dass andere das etwas.. äh.. "befremdlich" finden.
Ich denke, er braucht diese Haltung, um seinen -
meiner Einschätzung nach brüchigen - Selbstwert nach Leibeskräften zu schützen.
So viel zum Hintergrund, nun aber zur eigentlichen Fragestellung:
Dieser Patient eckt, wie man sich vielleicht vorstellen kann, in sozialen Situationen immer wieder an, was meinen Beobachtungen nach vorwiegend an folgenden Punkten liegt:
Er hat eine extrem starre Mimik und einen recht stechenden Blick. Da ist kaum Mienenspiel, was im Prinzip passend zu seinen unemotionalen Äußerungen ist, sein jeweiliges Gegenüber aber schnell irritiert und/oder auf Abstand hält. Die gesamte Gesichtsmuskulatur ist ständig unter Anspannung, besonders gut sichtbar ist der angespannte Kiefer bei ohnehin schon markanten Gesichtszügen. Der Patient lächelt sehr, sehr selten, und wenn, dann kommt es eher einem Grinsen gleich.
Er spricht nur das Nötigste, sodass er es seinem Interaktionspartner sehr schwer macht, eine Unterhaltung mit ihm zu führen.
Diskussionen, Auseinandersetzungen und daraus resultierende Kompromisse oder anderweitige Lösungen werden sowohl durch die knappe Sprechweise als auch durch seine Haltung erschwert bis verunmöglicht. Er sagt seine Meinung und der Rest ist ihm laut eigener Aussage egal.
Er ist (zumindest nach außen hin) nicht empathiefähig. Das fängt schon bei kleinen Dingen an, z.B. wenn einer seiner Mitpatienten im Trubel der Gruppendiskussion nicht verstanden hat, was der betreffende Patient gesagt hat. Er verweigert dann auch auf Bitten eine Wiederholung, wer ihm nicht zuhört, habe eben Pech gehabt. Er ist nicht in der Lage (und nicht willens?), die Gegebenheiten dabei zu berücksichtigen. Respekt und Hierarchien scheinen dabei eine Rolle zu spielen, denn er verhält sich nur bei anderen Patienten so. Wenn ich ihn auffordere, macht er es (wenn auch eher zähneknirschend).
Im Gesamtpaket wirkt er enorm aggressiv und auch zuweilen etwas unheimlich (ich vermute ohnehin ein recht komplexes Störungsbild, es ist aber nichts diagnostiziert).
Das Problem: Dieser Patient nimmt an meiner Interaktionsgruppe teil, immunisiert sich aber über sein Verhalten gegen jede Form der Reflexion. Er bekommt bei den Feedback-Übungen Rückmeldungen von den anderen Teilnehmern und von mir, kann diese aber überhaupt nicht annehmen. Er kann zwar Meinungen und Wahrnehmungen anderer ablehnen, begründet seine Ablehnung aber nicht. Er argumentiert nicht dagegen, sondern lässt die Äußerung des anderen als seiner Ansicht nach "falsche Meinung" im Raum stehen und ist danach auch nicht weiter empfänglich für Auseinandersetzungen, das alles mit demonstrierter Lässigkeit. Ich habe die Vermutung, dass er keinen Zugang zu seinen Emotionen hat und sich seiner Außenwirkung überhaupt nicht bewusst ist. Als ich ihm beim letzten Mal zurückmeldete, dass er auf mich einen unterschwellig aggressiven Eindruck gemacht und ich das Gefühl hatte, wenn man ihn auch nur ein bisschen falsch "anpieken" würde, würde er hochgehen, gab er sich erstaunt und verneinte das Vorhandensein jeglicher aggressiver Gefühle. Ich glaube ihm sogar, dass er sie nicht bewusst wahrnimmt. Kurz: Es ist kein Herankommen.
Nun arbeite ich mich normalerweise nicht an solchen Patienten ab. Er kennt das Anecken aber bereits aus anderen Zusammenhängen und verliert dadurch z.B. auch Anstellungen. Er findet sich in Konfliktsituationen wieder und es ist ihm völlig schleierhaft, wie es dazu kommen konnte. Dadurch ändert sich dann natürlich auch nichts und er schlittert immer wieder in solche Situationen. Eines seiner Therapieziele ist es daher, salopp gesagt, sozial besser zurecht zu kommen. Wäre das nicht, würde ich die Zusammenarbeit in der Interaktionsgruppe beenden.
Ich zweifle in Bezug auf den richtigen Therapieansatz. Im Prinzip wäre er ein sehr guter "Kandidat" für videogestützte Arbeit, da macht mir aber die Technik momentan einen Strich durch die Rechnung. Daher: hat jemand von euch eine Idee? Wie geht ihr in solchen Fällen vor?
Und: Ergibt es eurer Einschätzung nach überhaupt einen Sinn, weiter an der Problematik zu arbeiten? Eine meiner Überlegungen ist es -zumindest vorläufig - nicht weiter mit ihm daran zu arbeiten, Therapieziel hin oder her. Unter den Voraussetzungen erscheint es mir kaum möglich, mit ihm gemeinsam etwas zu erreichen.
Wer weiß, vielleicht hat ja jemand von euch eine Eingebung und/oder hatte schon mal einen solchen Fall. Ich bin gespannt und sende viele Grüße! Kinaa
Nicht alles, was Hand und Fuß hat, hat auch Herz und Hirn.