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MS Patientin mit diffusen, nicht erkennbaren Einschränkungen

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12. Dezember 2021 23:06 # 1
Registriert seit: 12.12.2021
Bundesland: Nordrhein-Westfalen
Beiträge: 25

Geändert am 05.07.2023 20:26:00
Hallo community,
Ein Fall mit einer ehemaligen Patientin lässt mich nicht los.
Hausbesuch, Mitte 40, MS.
Beim Erstkontakt empfing mich eine mobile (gangsichere) gepflegte Frau. Anamnestisch wurden diverse Alltagseinschränkungen genannt. Auch alle vorhanden Hilfsmittel (Duschstuhl, Rollator, Gehstock, Greifhilfe) ließ ich mir zeigen. Die Patientin schien sehr routiniert und nannte mir direkt Ziele. Gedächtnis und Feinmotorik solle sich verbessern, darin sei sie am meißten eingeschränkt (könne beispielsweise nichts kochen (schneiden, schälen) oder schreiben und würde viel vergessen. Auch sei sie sehr gangunsicher und komme manchmal nur mit Schwierigkeiten vom Sitzen in den Stand. Da war ich schon sehr erstaunt, da sie vom ersten Eindruck überhaupt nicht so wirkte. Gut, MS ist ja die Krankheit mit den 1000 Gesichtern. Beim nächsten Termin machte ich zwei Testungen mit ihr. Den DASH und einen Gedächtnistest wobei sie nahezu 100% erreichte. Auch die beschriebenen motorischen Probleme waren nicht ersichtlich... die Pat. krabbelte auf dem Boden, um etwas unter dem Sofa hervorzuholen. Feinmotorisch stellte ich ebenfalls nichts fest und suchte verwundert das Gespräch. Dort sagte mir die Pat., dass sie schon bei etlichen Praxen war, da sie alle als Simulantin abgetan haben. Es machte den Eindruck als fühle sie sich wirklich eingeschränkt. Auch die kreativen Hobbies passten nicht zu den beschriebenen feinmotorischen Problemen (stricken sowie Bilder aus winzigen Klebepalietten die mit einer Pinzette aufgetragen werden) da diese im Ergebnis top aussahen, soweit ich das beurteilen kann. Das nächste Mal kam sie mit mir die Treppen nach unten und lief o.B
ohne HiMi im altersgerechten Tempo... ohne Einschränkungen. Als ich das Thema Hausbesuch ansprach kam, sie sei ja immobil wegen der MS. Ratlos versuchte ich sie mit wirklich schwierigen feinmotorischen und kognitiven Aufgaben herauszufordern und zu reflektieren, dass ich bei der Umsetzung kein Problem sehe. Auch die Ziele habe ich immer wieder konkretisiert und versucht die Ausführung der Handlung/das Ergebnis zu reflektieren. Oft verliefen die Therapiestunden jedoch ins Blaue.
Die Pat. sah das jedoch anders "ich bin krank und eingeschränkt" und wurde mir gegenüber zunehmend latent aggressiv, nachdem ich nach 2 Rezepten freundlich das "Du" ablehnte um die professionelle Ebene zu wahren. Später stellten sich einige psychische Auffälligkeiten sowie die Tatsachen heraus, dass die drei therapeutischen Professionen die einzigen Sozialkontakte sind. (PT und Logo würden immer "massieren".)
Der Hausbesuch wurde organisatorisch zu einem großen Problem für die Praxis, weswegen ich sie versuchte, zu überreden, mit dem Bus zu fahren (wie zuvor erprobt). Das wurde abgelehnt, mit der Begründung dass sie körperlich nicht dazu in der Lage sei (gut, Fatige ist noch ein ganz anderes Problem). Schließlich passten ihr die Termine zeitlich nicht mehr in den Tagesplan, wir hatten keine anderen zeitlichen Kapazitäten und mussten so auseinandergehen.

Kürzlich habe ich meine "immobile" ehemalige Hausbesuchspatientin auf dem Fahrrad an mir vorbei radeln sehen, und nein, ich habe mich nicht getäuscht.
Ich bin mir im Klaren über MS und auch, dass die Krankheit in Schüben verlaufen kann. Von Schüben war jedoch nie die Regel und ich habe mich innerlich gesträubt sie auch als "Simulantin" ansehen zu wollen, was mir allerdings nicht gelang. Hätte ich es mehr aus psychiatrischer Perspektive betrachten sollen? Kurz dachte ich an das Münchhausen-Syndrom und schämte mich danach für diesen Gedanken.
Ich weiß nicht, woran die Zusammenarbeit mit den anderen Praxen scheiterte, ich kann mir jedoch vorstellen, dass es ähnlich verlief.
Dieser Fall beschäftigt mich noch immer. Gibt es ähnliche Falle von jungen MS Patienten?
Liebe Grüße
13. Dezember 2021 08:59 # 2
Registriert seit: 25.08.2007
Bundesland: Baden-Württemberg
Beiträge: 494

Du hast es schon angeführt - fehlende soziale Kontakte. Ich vermute, dass sie über ihre Krankheit versucht dies auszugleichen. Sich Hilfsangebote holt und damit diese Ebene kompensiert.
Gut ist, dass du es nicht ins private - Anrede - abgleiten lässt.
>>>Gemeinsam kann man vieles erreichen<<<
13. Dezember 2021 10:01 # 3
Registriert seit: 06.05.2011
Beiträge: 239

Man sollte unterscheiden zwischen dem was ein Klient maximal möglich kann (in der Therapie beim zeigen) und dem was er im Alltag umsetzen kann. Gerade bei MS kann es da große Differenzen geben. Sprich mit großer Anstrengungen für einen kurzen Zeitraum kann etwas und auch sehr gut geschafft werden, im Alltag fehlt die Kraft.
Mir scheint das hast du aber berücksichtigt.

Kognitive Einschränkungen sind bei MS oft vorhanden und werden nicht immer ausreichend berücksichtigt. Es kann auch jemand unzufrieden sein weil er gedanklich nicht ganz bei der Sache war und so das Gefühl hat es ist nur zufällig gut gelungen.
Bei manchen Klienten (oft mit Perfektionismus und sehr hohen eigenen Ansprüchen) scheint die Performance objektiv völlig ausreichend zu sein nur genügt es nicht den eigenen Ansprüchen. Manchmal kombiniert mit Krankheitsverarbeitung, also alleine der Umstand chronisch krank zu sein ist ein Makel.
Mir scheint auch das hast du berücksichtigt.

Bei Patienten mit guter Performance auch im Alltag die trotzdem auf Therapie bestehen sollte der Punkt sekundärer Krankheitsgewinn berücksichtigt werden. Wichtig: Diese Klienten sind keine Simulanten(!) sondern haben Probleme die sie durch die Therapie versuchen zu kompensieren.

Was du nicht erwähnt hast, in solch komplexen Fällen ist der Austausch/Rückmeldung mit Arzt/Physio/Logo/Angehörigen sinnvoll (unter Berücksichtigung der Schweigepflicht).

Last but not least: es wird immer Klienten geben bei denen wir nicht weiter kommen obwohl wir objektiv alles richtig gemacht haben.

13. Dezember 2021 19:38 # 4
Registriert seit: 29.09.2007
Beiträge: 785

Hallo,
nur kurz: für den Gedanken an das Münchhausen-Syndrom musst Du Dich nicht schämen!
Diese Erkrankung ist nichts Unmoralisches, sondern es handelt sich da um schwer kranke Menschen - die zudem noch ein extrem hohes Risiko für Fehlbehandlungen aller Art tragen. Würde das öfter mitbedacht, könnte man zumindest dies Risiko etwas mindern...

Gruß
nimis
14. Dezember 2021 09:58 # 5
Registriert seit: 12.12.2021
Bundesland: Nordrhein-Westfalen
Beiträge: 25

Hallo,
Vielen Dank für die Antworten.

Ja, die Psyche bzw. die subjektive Wahrnehmung spielte wohl eine übergeordnete Rolle.
Ich bin nicht traurig darum, dass die Behandlung nicht weitergeführt wurde, zumal es von vornherein eine Dauerbehandlung sein sollte.

Wir können nicht die Welt retten.
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