Geändert am 05.07.2023 20:26:00
Hallo community,
Ein Fall mit einer ehemaligen Patientin lässt mich nicht los.
Hausbesuch, Mitte 40, MS.
Beim Erstkontakt empfing mich eine mobile (gangsichere) gepflegte Frau. Anamnestisch wurden diverse Alltagseinschränkungen genannt. Auch alle vorhanden Hilfsmittel (Duschstuhl, Rollator, Gehstock, Greifhilfe) ließ ich mir zeigen. Die Patientin schien sehr routiniert und nannte mir direkt Ziele. Gedächtnis und Feinmotorik solle sich verbessern, darin sei sie am meißten eingeschränkt (könne beispielsweise nichts kochen (schneiden, schälen) oder schreiben und würde viel vergessen. Auch sei sie sehr gangunsicher und komme manchmal nur mit Schwierigkeiten vom Sitzen in den Stand. Da war ich schon sehr erstaunt, da sie vom ersten Eindruck überhaupt nicht so wirkte. Gut, MS ist ja die Krankheit mit den 1000 Gesichtern. Beim nächsten Termin machte ich zwei Testungen mit ihr. Den DASH und einen Gedächtnistest wobei sie nahezu 100% erreichte. Auch die beschriebenen motorischen Probleme waren nicht ersichtlich... die Pat. krabbelte auf dem Boden, um etwas unter dem Sofa hervorzuholen. Feinmotorisch stellte ich ebenfalls nichts fest und suchte verwundert das Gespräch. Dort sagte mir die Pat., dass sie schon bei etlichen Praxen war, da sie alle als Simulantin abgetan haben. Es machte den Eindruck als fühle sie sich wirklich eingeschränkt. Auch die kreativen Hobbies passten nicht zu den beschriebenen feinmotorischen Problemen (stricken sowie Bilder aus winzigen Klebepalietten die mit einer Pinzette aufgetragen werden) da diese im Ergebnis top aussahen, soweit ich das beurteilen kann. Das nächste Mal kam sie mit mir die Treppen nach unten und lief o.B
ohne HiMi im altersgerechten Tempo... ohne Einschränkungen. Als ich das Thema Hausbesuch ansprach kam, sie sei ja immobil wegen der MS. Ratlos versuchte ich sie mit wirklich schwierigen feinmotorischen und kognitiven Aufgaben herauszufordern und zu reflektieren, dass ich bei der Umsetzung kein Problem sehe. Auch die Ziele habe ich immer wieder konkretisiert und versucht die Ausführung der Handlung/das Ergebnis zu reflektieren. Oft verliefen die Therapiestunden jedoch ins Blaue.
Die Pat. sah das jedoch anders "ich bin krank und eingeschränkt" und wurde mir gegenüber zunehmend latent aggressiv, nachdem ich nach 2 Rezepten freundlich das "Du" ablehnte um die professionelle Ebene zu wahren. Später stellten sich einige psychische Auffälligkeiten sowie die Tatsachen heraus, dass die drei therapeutischen Professionen die einzigen Sozialkontakte sind. (PT und Logo würden immer "massieren".)
Der Hausbesuch wurde organisatorisch zu einem großen Problem für die Praxis, weswegen ich sie versuchte, zu überreden, mit dem Bus zu fahren (wie zuvor erprobt). Das wurde abgelehnt, mit der Begründung dass sie körperlich nicht dazu in der Lage sei (gut, Fatige ist noch ein ganz anderes Problem). Schließlich passten ihr die Termine zeitlich nicht mehr in den Tagesplan, wir hatten keine anderen zeitlichen Kapazitäten und mussten so auseinandergehen.
Kürzlich habe ich meine "immobile" ehemalige Hausbesuchspatientin auf dem Fahrrad an mir vorbei radeln sehen, und nein, ich habe mich nicht getäuscht.
Ich bin mir im Klaren über MS und auch, dass die Krankheit in Schüben verlaufen kann. Von Schüben war jedoch nie die Regel und ich habe mich innerlich gesträubt sie auch als "Simulantin" ansehen zu wollen, was mir allerdings nicht gelang. Hätte ich es mehr aus psychiatrischer Perspektive betrachten sollen? Kurz dachte ich an das Münchhausen-Syndrom und schämte mich danach für diesen Gedanken.
Ich weiß nicht, woran die Zusammenarbeit mit den anderen Praxen scheiterte, ich kann mir jedoch vorstellen, dass es ähnlich verlief.
Dieser Fall beschäftigt mich noch immer. Gibt es ähnliche Falle von jungen MS Patienten?
Liebe Grüße