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Phantomberührungen: Wenn das Tastgefühl trügt

Bei Menschen, denen eine Hand oder ein Bein amputiert wurde, kommt es häufig zu Phantomempfindungen in diesen Gliedmaßen. Aber auch gesunde Menschen ordnen unwissentlich Berührungen mitunter der falschen Körperseite oder einem völlig falschen Körperteil zu, wie eine aktuelle Studie zeigt. Doch wie kommt diese fehlerhafte Wahrnehmung zustande?

Auch wenn die Hände und Füße überkreuzt sind, kann es passieren, dass die Berührung der rechten Hand am rechten Fuß gespürt wird

„Die bisherigen Erklärungen dazu, wie und wo unser Gehirn Berührungen verarbeitet, kommen zum Beispiel dann an ihre Grenze, wenn es um Personen geht, denen Körperteile amputiert wurden, oder die von neurologischen Erkrankungen betroffen sind“, sagt Professor Dr. Tobias Heed, einer der Autoren der Studie. So verspüren Menschen nach einer Amputation häufig Phantomschmerzen in dem Körperteil, der nicht mehr vorhanden ist.

Um sich der Frage über das Zustandekommen dieser fehlerhaften Wahrnehmung zu nähern, haben die Forschenden des Exzellenzclusters CITEC der Universität Bielefeld, der Universität Hamburg und der New York University untersucht, ob sich Phantomberührungen auch bei gesunden Menschen nachweisen lassen. Sie konnten zeigen, dass gesunde Erwachsene tatsächlich systematisch Berührungen ihrer Hände fälschlicherweise ihren Füßen zuordnen und umgekehrt.

Die Ausgangslage

Im Gehirn antworten benachbarte Neurone auf benachbarte Stellen der Haut. „Man hat bislang gedacht, dass aus solch einer Art Landkarte im Gehirn auch unsere bewusste Wahrnehmung darüber stammt, an welchem Körperteil eine Berührung stattgefunden hat. Gemäß dieser Annahme sind dort Körperteile wie Hände, Füße oder auch Gesicht repräsentiert. Die neuen Befunde zeigen hingegen, dass andere Charakteristika einer Berührung genutzt werden, um Berührungen unseren Körperteilen zuzuordnen“, so Heed, der diese „Landkarte“ als "anatomisches Referenzsystem" bezeichnet. Bislang ging man außerdem der Annahme nach, dass auch die räumliche Wahrnehmung einen Einfluss auf Berührungsverarbeitung habe, also wo im Raum die Berührung erfolgt – ob zum Beispiel links, vorne oder unten. Viele frühere Ergebnisse wurden so interpretiert, dass das Gehirn vermutlich eine weitere Karte verwendet, die als "externes Referenzsystem" bezeichnet wird.

Wenn Körperteile sich auf einer anderen Seite als üblich befinden – etwa wenn die Beine überkreuzt liegen – geraten diese beiden Koordinatensysteme in Konflikt. Das externe Koordinatensystem verortet dadurch zum Beispiel das linke Bein auf der rechten Seite, was nicht jedoch zur im Gehirn abgespeicherten Körperseite des Beins passt. In ihrer Studie wollte die Forschergruppe nun klären, welche Rolle die anatomische Wahrnehmung des Gehirns und welche Rolle die räumliche Wahrnehmung spielt.

Die Untersuchung

Für die Experimente wurden die Hände und Füße der Versuchspersonen jeweils mit einem taktilen Stimulator beklebt, welcher per Fernsteuerung eine Berührung an die Haut geben kann. Die Forschenden berührten dann die Testperson mittels dieser Impulsgeber kurz nacheinander an zwei Stellen – zum Beispiel am linken Fuß und an der linken Hand. Daraufhin berichtete oder zeigte die Testperson, wo sie die erste Berührung gespürt hatte. Dieser Ablauf wurde pro Person viele Male wiederholt. Dabei musste die Testperson ihre Füße oder Hände mal überkreuzen, mal lagen die Körperteile in ihrer gewohnten Stellung.

„Bemerkenswert ist, dass Probandinnen und Probanden die erste Berührung in acht Prozent aller Fälle einem Körperteil zuordnen, das überhaupt nicht berührt wurde – eine Art Phantomempfindung“, so Stephanie Badde, Erstautorin der Studie.

Die Gründe

„Die bisherige Vorstellung, dass die Verortung von Berührungen auf Körperteilen von Körperkarten abhängt, kann diese neuen Befunde nicht erklären", erklärt Tobias Heed. Die Untersuchung zeigt, dass die Phantomberührungen von drei Eigenschaften abhängen:

  1. Als wichtigster Faktor gilt die Identität des Körperteils, also ob es sich etwa um eine Hand oder einen Fuß handelt. Deswegen passiert es häufig, dass die Berührung der einen Hand an der anderen Hand wahrgenommen wird.
  2. Den zweitgrößten Einfluss hat die Körperseite des berührten Körperteils. Das erklärt, warum die Berührung am linken Fuß mitunter fälschlicherweise an der linken Hand gespürt werden kann.
  3. Der dritte Einflussfaktor ist die gewohnte, anatomische Position des Körperteils, also wo sich Hände und Füße am Körper befinden. Das beweisen die Forschenden im Experiment mit den überkreuz liegenden Körperteilen: Die linke Hand liegt im Experiment auf der rechten Seite. Wird die linke Hand nun berührt, kommt es immer wieder vor, dass das Gehirn die Berührung irrtümlich dem rechten Fuß zuordnet – also einem anderen Körperteil, das weder zur gleichen Körperseite gehört, noch gerade auf der gleichen Raumseite liegt wie der berührte Körperteil. „Maßgeblich ist also der Stammplatz des berührten Körperteils: die linke Hand führt zu einer Antwort mit einem Körperteil, das gerade dort liegt, wo sich die berührte Hand normalerweise befinden sollte“, so Stephanie Badde.

Die Erkenntnisse der Studie werfen einen neues Licht auf die Art und Weise, mit der unser Gehirn den eigenen Körper abbildet und können beispielsweise neue Forschung zur Entstehung von Phantomschmerzen anstoßen. „Auch Entwicklungen von Berührung in künstlichen Systemen gehen derzeit fest davon aus, dass dies über eine oder mehrere Karten gelöst werden sollte. Aber vielleicht sind für manches Verhalten andere Verarbeitungsprinzipien deutlich effizienter“, so Heed.

Originalpublikation

Stephanie Badde, Brigitte Röder, Tobias Heed: Feeling a Touch to the Hand on the Foot. Current Biology, https://doi.org/10.1016/j.cub.2019.02.060, online erschienen am 4. April 2019, in Print am 6. Mai 2019.



Quelle: Universität Bielefeld


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