Verhaltensauffälligkeiten und deren Sinn bei Menschen mit Behinderungen besser verstehen - das hat sich das Projekt VEMAS zum Ziel gesetzt. Dafür wurden praxisnahe Materialien entwickelt, die für den beruflichen Alltag sowie für Fort- und Weiterbildungen eingesetzt werden können. Sie richten sich an Alle, die mit Menschen mit Behinderungen zusammenarbeiten.
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Ramona Peters ist Anfang 20 und arbeitet in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Sie mag ihre Arbeit, spielt begeistert in einer Theatergruppe mit und interessiert sich sehr für Musik. Regelmäßig zeigt sie aber zwanghafte Verhaltensmuster: Sie kann nicht über bestimmte Böden gehen, wenn ein Muster abrupt endet, muss manchmal mit dem Oberkörper wippen und kann das nicht stoppen oder gibt unkontrolliert Laute von sich.
Warum tut sie das? „Jede Art von Verhalten hat grundsätzlich einen Sinn, und damit meine ich auch: einen Grund, also eine Ursache“, sagt Professorin Sophia Falkenstörfer, Leiterin des Lehrstuhls für Pädagogik bei körperlichen und komplexen Behinderungen an der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg. Ramona Peters – eine fiktive Person – gibt womöglich immer dann unkontrollierte Laute von sich, wenn sie emotional angespannt ist. Wenn sie Stress, Angst oder Langeweile verspürt. Oder weil sie gerade etwas tun möchte, es ihr aber verboten wurde und sie sich darüber sehr ärgert.
Ursachen im Dialog mit Betroffenen und deren Umfeld klären
Ein Ziel der Pädagogik sollte es bei auffälligen Verhaltensweisen sein, deren Ursachen im jeweiligen Kontext und aus der Lebensgeschichte heraus zu verstehen. Dieser Prozess sollte im Dialog mit den Betroffenen und ihrem sozialen Umfeld ablaufen – mit Betreuungspersonen, Lehrerinnen und Lehrern, weiteren pädagogischen und therapeutischen Fachkräften, Eltern, Verwandten und Freunden.
Aus dieser Überzeugung heraus hat Sophia Falkenstörfer ab 2019 des Projekt VEMAS konzipiert. VEMAS steht für „Verhalten macht Sinn: Verhaltensauffälligkeiten von Menschen mit Behinderung verstehen – den Menschen sehen – die Perspektive ändern.“ Unter Leitung der JMU-Professorin wurde ein Arbeitskonzept für die Praxis entwickelt, angewendet und evaluiert. Es richtet sich an Berufsgruppen aus Pädagogik, Medizin und Psychologie, die direkten Bezugspersonen und die Betroffenen selbst.
Arbeitsmaterialien auf interaktiver Webseite frei zugänglich
VEMAS wurde als Erasmus+ Projekt zunächst für erwachsene Menschen mit Behinderungen und Verhaltensauffälligkeiten konzipiert. Es ist aber für die gesamte Lebensspanne, also auch für vorschulische, schulische und außerschulische Kontexte anwendbar. In der Pädagogik ist ein derartig multiperspektivisches Konzept bislang einmalig. VEMAS besteht aus drei zentralen Produkten, sechs pädagogisch-diagnostischen Produkten und einem Ergebnisbogen, in dem alle Erkenntnisse zusammenfließen.
Ergänzend wurden Kurzfilme gedreht, die sogenannten VEMAS-Portraits von Menschen mit Behinderungen. Sie zeigen Facetten dieser Protagonisten und Protagonistinnen, die für sie wichtig sind – ganz unabhängig von ihren auffälligen Verhaltensweisen.
Alle VEMAS-Materialien finden sich auf einer interaktiven Webseite; ihre Nutzung ist kostenfrei möglich. Sie können am Handy oder Tablet online durchgearbeitet oder als pdf-Dateien heruntergeladen werden. Aus den Online-Eingaben kann am Ende ein digitaler Ergebnisbogen erstellt werden, das pdf muss händisch ausgefüllt werden. Mit VEMAS können unter anderem auch nötige Informationen für die Beantragung von Unterstützungsleistungen im Sinne der ICF zusammengetragen werden.
Um die Nutzung der Materialien anwendungsfreundlich und ansprechend umzusetzen, hat das VEMAS-Team eng mit einer Webagentur und einer Illustratorin zusammengearbeitet.
VEMAS-Produkte kurz beschrieben
Ein zentrales Produkt ist der VEMAS-Beobachtungsbogen. Er hilft, durch genaue Beobachtungen herauszufinden, in welchem Kontext Verhalten als auffällig definiert wird. Das Verhalten wird vor dem Hintergrund der agierenden Person und ihres Umfeldes her beschrieben.
Das VEMAS-Interview für Menschen mit Behinderungen ermöglicht es, die Sicht der betroffenen Person auf ihr Verhalten sowie mögliche Gründe dafür zu ermitteln. In dem Interview kann die Person selbst erste Vorschläge für neue Handlungsoptionen formulieren.
Das VEMAS-Interview für das soziale Umfeld dient dazu, Perspektiven und Sichtweisen auf die Person und ihr auffälliges Verhalten zu erheben sowie (vermutete) Gründe und Annahmen herauszuarbeiten.
Im Lauf des Projekts wurde festgestellt, dass Menschen mit Behinderungen und Verhaltensauffälligkeiten überdurchschnittlich viele und häufig nicht kompatible Medikamente mit starken Nebenwirkungen verschrieben bekommen. Aus diesem Grund wurde die VEMAS-Medikamenteninformation entwickelt. Sie fokussiert sich auf Psychopharmaka und Antiepileptika und zeigt mögliche Aus- oder Nebenwirkungen der am häufigsten verschriebenen Medikamente auf das Verhalten auf.
Menschen mit Behinderungen werden oft nur in der Gegenwart und mit Fokus auf ihre Diagnosen wahrgenommen. Vergangenheit und Zukunft werden im Unterstützungsalltag häufig ausgeklammert. Die VEMAS-Biographiearbeit richtet den Blick in die Vergangenheit, um mögliche Erklärungsansätze für auffälliges Verhalten zu erschließen und um womöglich vergessene Handlungsoptionen neu zu entdecken.
Im Anschluss unterstützt die VEMAS-Zukunftsplanung Menschen dabei, über ihre Zukunft nachzudenken. Im Fokus stehen die Ziele, Gaben und Möglichkeiten sowie persönliche Vorstellungen über eine gute Zukunft. Für diesen Prozess ist es wichtig, dass die Person einen stabilen Unterstützungskreis hat, der sie auf dem Weg begleitet, für sie mitplant und Aufgaben übernimmt.
VEMAS: Entstehung, Förderer, Projektpartner
Sophia Falkenstörfer, ihr Mitarbeiter Timo Dins und JMU-Studierende haben die Idee für VEMAS seit 2021/2022 gemeinsam mit Monique Lambertz von der staatlichen Dienststelle selbstbestimmtes Leben (DSL) der deutschsprachigen Gemeinschaft in Eupen (Belgien) umgesetzt. Die DSL unterstützt und berät Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen. Durch ihre gute Vernetzung mit den sozialen Einrichtungen in Ostbelgien haben 28 Menschen mit Behinderungen (und Verhaltensauffälligkeiten) und etwa 50 pädagogische Fachkräfte freiwillig in dem Projekt mitgearbeitet und ihre Daten zur Verfügung gestellt, die dann an der JMU qualitativ ausgewertet wurden. Bei dem VEMAS-Produkt „Portraits“ haben 16 Menschen mit Behinderungen aus Belgien von sich erzählt. Die Portraits finden sich auf der VEMAS-Website.
Gefördert wurde das Projekt zunächst aus dem Programm ERASMUS+ der Europäischen Union. Von November 2021 bis Dezember 2023 war die Universität Innsbruck der Erasmus+ Koordinator, während die Projektarbeit bei der JMU und der DSL lag. Die Realisierung von VEMAS wird seit 2024 von der Heidehof-Stiftung und der Software AG-Stiftung finanziert. Dank den beiden Stiftungen konnte das Projekt finalisiert und die interaktive Webseite fertiggestellt werden.
Feedback aus der Praxis für Nachsteuerungen
Die belgischen Projektpartner werden VEMAS fest in ihre praktische Arbeit verankern. Die Erfahrungen, die sie damit machen, werden an das Würzburger Team von Sophia Falkenstörfer zurückgemeldet. „Mit diesem Input können wir dann eventuell nötige Nachsteuerungen vornehmen“, sagt die Professorin. Auch wird ein Tool auf der Website es ermöglichen, dass die Nutzerinnen und Nutzern von VEMAS ab November dem Team an der JMU Feedback geben können.